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Themensammlung - Inszenierung/Konzeption

Professionell improvisieren

Das Mindset für radikale Kooperation

Wie können wir in der Zusammenarbeit auch unvorhersehbare Situationen gemeinsam kreativ meistern und über Wasser bleiben? Ass.-Prof. Dr. Lukas Zenk sagt: Wir müssen lernen zu improvisieren. Der Professor für Innovations- und Netzwerkforschung arbeitet an der Donau-Universität Krems und leitet das Research Lab „Collaborative Creativity and Innovation“. In angewandten Forschungsprojekten untersucht er, wie sich Menschen in Organisationen und während Veranstaltungen vernetzen und wie Kreativität und Innovationen entstehen (www.lukaszenk.at). Diese Erfahrung setzt er auch in der Beratung für internationale Unternehmen ein, um komplexe Probleme kollaborativ zu lösen (www.lightbox.at). Zusätzlich ist er Mitgründer der Improvisationstheatergruppe Quintessenz und wurde für seine Projekte und Keynotes bereits mehrfach ausgezeichnet.

Das Paradigma der Planung

In unserer westlichen Gesellschaft wird Planung als hoher Wert angesehen. Wir planen unseren Tagesablauf, unsere Karriere und selbst die Familienplanung unterstützt uns dabei, ein Leben zu führen, das unseren Erwartungen entspricht. Diese Denkweise hat eine lange Tradition, die nicht nur unseren Alltag, sondern auch unsere Zusammenarbeit geprägt hat. Organisationen, etymologisch abgeleitet aus der planmäßigen Ordnung und systematischen Vorbereitung zusammenwirkender Abläufe, sind unser aktuelles Konstrukt, wie wir miteinander arbeiten. Wir haben uns an einen fixen Arbeitsort, geregelte Prozessabläufe, hierarchisch geordnete Arbeitsbeziehungen und anvisierte Jahresziele gewöhnt.

Um uns über diese von uns geschaffenen Organisationsgrenzen hinweg austauschen zu können, organisieren wir weitere Zusammenkünfte. Vom altgriechischen Symposion, lateinisch „das gemeinsame und gesellige Trinken“, zu heutigen MICE-Veranstaltungen werden dafür unterschiedlichste Formate genutzt. Bis heute herrscht das vorherrschende Planungsparadigma, in dem wir annehmen, dass ein möglichst genauer Ablaufplan die beste Wirkung erzielen kann.

Spätestens seit der Jahrtausendwende zeigt sich jedoch eine Trendwende. Organisationen müssen erkennen, dass langfristige Planung immer schwieriger oder gar unmöglich wird. Die zunehmende Globalisierung erhöht die Geschwindigkeit der Geschäfts- und Innovationsprozesse, so dass ein Umdenken der Zusammenarbeit erforderlich wird. Themen wie VUCA, Resilienz und Agilität, oder Konzepte wie Lean Management, Design Thinking und Scrum sollen nicht mehr nur als Schlagworte verwendet werden, sondern tatsächlich in unseren Organisationen umgesetzt werden.

Diese Veränderung wirkt sich auf die MICE-Branche aus, in der zwar die wohlgeordneten Strukturen mit klarem Planungsablauf noch immer vorherrschend sind, aber immer öfter alternative Formate gefordert werden. Ausgehend von World Cafés, Open Spaces oder Bar Camps wird nach interaktiveren Formen der Zusammenarbeit gesucht. Statt der klassischen hierarchischen Beziehungen wie Führungskraft - Mitarbeiter oder Vortragender - Zuhörer werden heterarchische Beziehungen zwischen unterschiedlichen Personen gesucht, um sich auf Augenhöhe auszutauschen und gemeinsam Wissen zu generieren.

Die Notwendigkeit der Improvisation

Planung bedeutet etwas vorherzusehen bzw. Ziele in der Zukunft anzuvisieren und sie bestmöglich zu erreichen. In Situationen, die sich nur selten ändern, sind langfristige Pläne ein geeignetes Mittel. Wenn die Umwelt jedoch komplexer und dynamischer wird, entstehen häufiger Situationen, die unvorhersehbar sind. In diesem Kontext gewinnt die Improvisation an Bedeutung, die aus den Begriffen visus (sehen) und pro-visus (voraus-sehen) entstammt, aber durch die Vorsilbe “im” negiert wird: Im-pro-visus (un-vorher-gesehen), umschreibt damit grundsätzlich den Umgang mit unerwarteten Situationen.

Bisher wurde Improvisation als unprofessionelle Arbeit oder Dysfunktionalität der Organisation angesehen, da es eine Abweichung der Planung darstellt. Je weniger wir aber durch kontinuierliche Veränderungen und alternative Kooperationsformen planen können, desto häufiger stehen wir vor der Aufgabe, professionell zu improvisieren. Das bedeutet, im Hier und Jetzt alle vorhandenen Ressourcen bestmöglich zu nutzen, um ein Problem zu lösen oder gemeinsam etwas Neues zu erschaffen. In der MICE-Branche ist diese „real-time creativity“ hochrelevant, da Veranstaltungen komplexe soziale Situationen darstellen, in denen in Echtzeit kreative Lösungen gefunden werden müssen. So wie MacGyver, der Serienheld der 1980er Jahre, in kurzer Zeit eine Bombe entschärfen oder zusammenbauen musste, stehen Event„planer“ oft vor der Herausforderung, brenzlige Situationen zu meistern, die nicht vorab eingeplant werden können.

Die zunehmende Vernetzung in Organisationen bzw. die erhöhte Interaktivität und Zusammenarbeit bei Veranstaltungen erhöhen den Bedarf zu improvisieren. Rigide geplante Konferenzen mit zeitlich begrenzten Redezeiten können leichter durchgeführt und geplant werden als selbstorganisierende Formate. Bei letzteren muss in der jeweiligen Situation entschieden werden, welche Interventionen in interaktiven Settings benötigt werden. Die erfolgreiche Durchführung von interaktiven Settings ermöglicht es jedoch, zielgerichtet auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Teilnehmenden einzugehen und Veranstaltungen zu einem gemeinsamen Erlebnis entstehen zu lassen. Dafür wird zusätzlich zu Planungskompetenzen auch die Fähigkeit der Improvisation benötigt, um wie ein Surfer auf den Wellen der Meere zu gleiten, statt von ihnen erschlagen zu werden. Doch wie kann diese Fähigkeit erlernt werden?

Vom Improvisationstheater zur angewandten Improvisation

Im klassischen Theater werden Aufgaben in unterschiedliche Professionen wie Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler aufgeteilt und eine Inszenierung wird langfristig geplant und geprobt. Im Improvisationstheater gehen die Schauspieler ohne Drehbuch, Regisseur oder Kostüm auf die Bühne. Sie erhalten vom Publikum eine Inspiration und beginnen spontan improvisierte Szenen zu spielen, um vor den Augen des Publikums komplette Theaterstücke entstehen zu lassen. Die Impro-Spieler übernehmen hierbei selbst die Verantwortung für den Handlungsverlauf, die pantomimische Kostümierung und Dramaturgie des Stücks. Diese Theaterform der spontanen Kooperation trat historisch in Wellen auf, im 16. Jahrhundert in der Commedia dell'arte, Anfang des 19. Jahrhunderts auf Stegreifbühnen in Wien, seit den 1950er Jahren vor allem in Chicago und in den letzten Jahrzehnten entwickelten sich weltweit Ensembles.

In den Improvisationstrainings wird dabei nicht nur die Fähigkeit des Schauspielens erlernt, sondern vor allem die radikale Kooperation zwischen Menschen, die impromptu, ad-hoc, spontan gemeinsam etwas Neues entwickeln. Dieses Mindset der Improvisation stellt eine Perspektive dar, in der unerwartete Situationen nicht Angst und Stress auslösen, sondern das Potenzial für Kreativität und Innovation anbieten. Auf Basis dieser Trainingsmethoden entstand die „Angewandte Improvisation“, um damit im Unternehmenskontext kognitive Fähigkeiten für spontane Zusammenarbeit zu trainieren. Das internationale „Applied Improvisation Network“ vernetzt weltweit Berater und Trainer, um diese Fähigkeiten weiterzugeben und zu professionalisieren. Je mehr Autonomie und Interaktivität in Organisationen und Veranstaltungen ermöglicht und gefordert werden, desto wesentlicher sind diese sozialen Kompetenzen, die bisher nur in seltenen Fällen professionell ausgebildet werden. Sie ermöglichen es, auf Augenhöhe miteinander zu arbeiten und gleichermaßen situativ und sicher zu agieren.

Ausblick

Die Erforschung von und das Training für angewandte Improvisation sind noch ein junges Forschungs- und Anwendungsfeld, das aber seit der Jahrtausendwende stark wächst. Bedingt durch den globalen Wandel, der neue Kooperationsformen notwendig macht, werden auch neue Mindsets benötigt, mit deren Hilfe Menschen in komplexen Arbeitssituationen wie in der MICE-Branche professionell agieren können. Das soll nicht bedeuten, dass Planungen nicht mehr von Relevanz sind, sondern dass situationsadäquat die eine oder andere Fähigkeit benötigt wird. Tätigkeiten, die langfristig vorausgesehen werden können, sollten weiterhin geplant werden, wofür bereits entsprechende Methoden entwickelt wurden. Gleichzeitig erhöht sich der Bedarf an gut trainierten Fähigkeiten und Mindsets, um auch unvorhersehbare Situationen wie MacGyver lösen zu können und sie wie Improvisateure als Inspiration zu begreifen.

MICE Club: Danke für den informativen Beitrag, lieber Lukas Zenk. Wie schafft man ein Umfeld, in dem Improvisation möglich wird, obwohl eigentlich nach Plan x vorgegangen werden sollte? Wie wird es möglich, dass der Kunde mir als Veranstaltungs„planer“ vertraut, wenn ich plötzlich alles umschmeiße? Vielleicht gibt es sogar ein Beispiel?

Gerade Veranstaltungs„planer“ kennen den Sinn und Unsinn von Plänen. Insofern wäre eine Möglichkeit, dass nach wie vor geplant wird, und zusätzlich dem Kunden angeboten wird, situationsadäquat das Format anzupassen. Dafür muss man sich für unvorhergesehene Situationen vorbereiten, beispielsweise indem im Vorfeld mehrere Szenarien durchgegangen werden. Oder man integriert einen Slot, der nicht klassisch geplant wurde, sondern ad-hoc den Teilnehmenden die Möglichkeit gibt, aufkommende Themen zu bearbeiten. Das wäre ähnlich wie bei Unternehmen, die bestimmte Zeiten für die Mitarbeiter reservieren, in denen sie ihre eigenen Projekte durchführen können.

Auch neue, andere Formate oder ungewöhnliche Materialien können dazu einladen, gemeinsam etwas zu nutzen. Bei einer Veranstaltung habe ich z.B. zwei Schaukeln vorgefunden, und Teilnehmer haben sie benutzt und sich schwingend unterhalten. Vielleicht ist hier aber auch Vorsicht geboten. Denn grundsätzlich müssen wir bei Veranstaltungen davon ausgehen, dass die Teilnehmer vorhandenes Equipment auch nutzen wollen, wenn sie improvisieren. Da können klassische Veranstalter an ihre Improvisationsgrenzen stoßen. Gerhard Stübe von Kongresskultur Bregenz erzählte mir von einer Veranstaltung mit 1.600 Teilnehmern, die ein selbstorganisiertes Veranstaltungsformat entwickelt haben und improvisieren wollten. Dabei brachten sie beispielsweise ein Klavier, das sie entdeckt hatten, in einen anderen Raum, und haben das Equipment vor Ort für ihre Zwecke verwendet. Das war entsprechend problematisch für die Techniker, die dieses Vorgehen so nicht kannten und entsprechend schockiert waren. Für die nächste Veranstaltung wurden dann Grundregeln ausgemacht und vorab geprobt, wie mit unerwarteten Situationen umzugehen ist. So wurde beispielsweise ein Info- und Ausgabe-Center aufgestellt und Teilnehmer, die spontan etwas benötigten, konnten dort nachfragen. Damit war es den Technikern möglich, ihnen entsprechendes Equipment im jeweiligen Moment bereitzustellen und trotzdem alle Sicherheits- oder Versicherungsaspekte zu beachten.

MICE Club: Können Planungs- und Improvisationskompetenz in einer handelnden Person verankert sein oder ist diese Weiterentwicklung hin zu Planen UND Improvisieren auch ein Schritt hin zu Tandem-Teams, wie sie z.B. Frau Gundlach von der Robert-Bosch-Stiftung vorschlägt?

Es ist beides möglich. Vor allem Personen, die aus privaten oder beruflichen Kontexten beide Welten kennen, können diese als einzelnes Individuum kombinieren und sich entsprechend anpassen. Die Herausforderung dabei ist, bewusst beide Rollen anzubieten und zu nutzen. Zwei Personen mit unterschiedlichen Herangehensweisen ermöglichen gemeinsam ein breiteres Spektrum und können durch den jeweiligen anderen ständig über den eigenen Tellerrand hinwegsehen und sich im Moment abstimmen, wie es weiter gehen sollte. Die Herausforderung für ein Tandem-Team ist dabei, trotz Unterschiedlichkeit ein gemeinsames Vorgehen im Sinne von Co-Leadership zu entwickeln.


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Bildquellen: Headerbild: Walter Skokanitsch, Fließtext: Thomas Ashlock on Unsplash

Autor: Andrea Goffart

Veröffentlicht am: 28.05.2019


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