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Best Practice - Markenwelt/Messe

Wie sieht die Messe der Zukunft aus?

Ein Gespräch mit Benjamin Lechler

Die Messe im Wandel – kaum eine Headline beschreibt den Zustand großer Messeformate derzeit besser. Ob Cebit-Absage, erneute IAA-Schrumpfung oder Aussteller-Shift, die Messe muss immer wieder hinter anderen Werbeplattformen und Formaten zurückstecken. Darüber berichteten jüngst auch die Macher von messedigital.de und fragen mit Blick auf das IAA-Desaster, was da los ist. Ja, was ist da eigentlich los? Das wollten auch wir genauer wissen. Und haben nachgefragt. Rede und Antwort stand Benjamin Lechler, seines Zeichens Spezialist in Sachen Eventmarketing und Live-Kommunikation. Sein Credo: „Machen ist wie wollen, nur viel krasser".

MICE Club: Herr Lechler, ist das Format Messe langweilig geworden?

Nein, nicht die Messen an sich sind langweilig geworden, das sieht man auch an den steigenden Zahlen der Messeveranstalter. Doch generische Messen mit unscharfem Profil werden zunehmend uninteressant – das gilt für Besucher und Aussteller gleichermaßen. Eine erfolgreiche Messe bringt genau die richtigen Besucher und Aussteller zusammen – wem das nicht gelingt, der steht nun einmal in direkter Konkurrenz zu anderen Eventformaten und anderen Marketingkanälen.

MICE Club: Aber wie erklärt sich dann der konstante Ausstellerrückgang der IAA – ist das nicht die Plattform mit der größten Schnittmenge für Besucher und Aussteller?

Hier kommt noch eine andere Entwicklung zum Tragen, denn natürlich ist eine Messe auch immer Spiegelbild einer ganzen Branche. Wenn also die Automobilbranche ein insgesamt „angeknackstes“ Image hat, überträgt sich das zusätzlich auf die Messe.

MICE Club: Hat die allgemeine Entwicklung auch einen positiven Effekt?

Durchaus, denn Innovation braucht immer auch einen gewissen Marktdruck. Nur so hinterfragen Veranstalter ihre Konzepte, nur so können sich andere Themen und Eventformate weiterentwickeln.

MICE Club: Wen trifft der Wandel aktuell stärker, den Aussteller, weil er auf ein einst fixes Standbein im Marketingmix verzichtet (zumindest temporär), oder den Veranstalter, der vor leeren Hallen steht?

Nun, den Aussteller trifft es, wenn seine Branche generell „bedroht“ ist und den Veranstalter trifft es, wenn sein Konzept gegenüber anderen Messen oder anderen Marketingkanälen oder Eventformaten nicht mehr überzeugen kann.

MICE Club: Stichwort Marktdruck: Wer muss sich bewegen und vor allem: Wohin? Da schließt sich auch die Frage nach dem Wie an.

Auch hier gilt: Wenn es die Aussteller sind, deren Geschäftsmodell veraltet ist – ein eindrückliches Beispiel sind Nokia oder Agfa – haben sie natürlich die Aufgabe, sich weiterzuentwickeln. Das hat unmittelbar zur Folge, dass auch die Veranstalter sich mitentwickeln müssen. Ist hingegen „nur“ das Messekonzept nicht mehr zeitgemäß, müssen sich die Veranstalter bewegen und eine stimmige Antwort auf die drängenden Fragen von Aussteller und Besucher finden.

MICE Club: Was heißt das zum Beispiel für die Automobilbranche?

Es geht nicht mehr darum, nur die neuesten Modelle auszustellen. Das geht auch im Autohaus, über das Internet oder auf markeneigenen Events. Vielmehr gilt es, Mobilitätskonzepte der Zukunft zu diskutieren und vorzustellen. Mit der Messe einen Rahmen für derlei Themen zu kreieren. Kurzum: Veranstalter müssen herausfinden, was die Besucher einer Messe wirklich wollen. „Früher“ wollten sie eben die neuesten Produkte, die zum Messetermin gelauncht wurden, live sehen und mussten den Termin einhalten, um etwas zu erfahren. Was das heute ist? Darauf kann die Antwort für jede Messe eine andere sein.

MICE Club: Während Messebesucher früher also einen handfesten Wissensvorsprung hatten, kommen sie heute bereits informiert auf den Messestand. Was genau suchen sie also?

Menschen wollen sich austauschen. Und das mit echten Menschen. Vor Ort – also live. Sie wollen Dinge erfahren. Nichts ist schlimmer, als Besucher am Messestand allein durch eine Broschüre blättern oder eine App bedienen zu lassen. Treffen Sie sich als Aussteller mit Ihren Kunden. Gehen Sie ins Gespräch und erkunden Sie so, was Ihre Besucher wirklich wollen. Das verrät keine Onlineumfrage der Welt – zumindest nicht in der Tiefe und nicht in der Qualität. Es geht um die Zwischentöne.

MICE Club: Sprechen wir über alternative Messeformate. Wie können diese aussehen?

Derlei Formate gibt es schon heute, man denke nur an Events, die Unternehmen in eigenen Locations zu einem eigenen Termin durchführen. Da geht es dann deutlich emotionaler zu als auf der Messe, weniger fachlich. Auf so einem Event genießen Aussteller und Anbieter eine exponierte Stellung und die ungeteilte Aufmerksamkeit, die auf einer Messe so nie gegeben ist. Man kann sich frei von Wettbewerbsdruck und Wettbewerbern präsentieren. Allerdings erreichen Initiatoren auf diesem Weg vermutlich weniger Besucher als es eine große Messe schafft.

MICE Club: Was bedeutet Messe im digitalen Zeitalter?

Messe bedeutet nach wie vor „live erleben“. Gerade weil die Welt digitaler geworden ist. Online können Produkte nicht erlebt werden, zumindest nicht im Sinne vom haptischen Begreifen. Auch geht es bei der Messe nach wie vor darum, Menschen zu treffen. Zu erleben. Face-to-Face.

MICE Club: Wie wirkt sich das auf den Prozess aus, wo müssen Veranstalter und Aussteller primär ansetzen, um die digitale Transformation effektiv gestalten zu können?

Unabhängig von den Eventformaten müssen Aussteller und Veranstalter digitale Tools viel stärker nutzen, um ihre Prozesse effizienter zu managen und um Daten zu erheben, die sie bislang noch gar nicht kennen. Die aber oft schon da sind. Wer weiß schon wirklich, wie Besucherströme aussehen. Wer kennt heutzutage beispielsweise die Heatmap seiner Events, seines Messestandes oder seines Messegeländes? Und wer nutzt diese Daten, um seine Veranstaltung in Echtzeit oder künftig zu verbessern? Ich wage zu behaupten: kaum jemand.

MICE Club: Was bedeutet „Erleben“ vor dem Hintergrund eines zukunftsfähigen Konzeptes? Es kann ja nicht nur um den schnellen Kick gehen – nur Substanz trägt Transformation, oder?

Lassen Sie uns zunächst zwischen Konsumermesse und Fachmesse unterscheiden, denn die Zielgruppen und deren Anspruch driften zunehmend auseinander. Die klassische Konsumermesse steht vor der Herausforderung, dass der Besucher – wie im Fall der IAA – nicht ausschließlich wegen des neuen Modells aufs Messegelände kommt. Es stellt sich vielmehr die Frage, wofür die Marke steht. Welche Philosophie, welches Mindset steckt hinter der Marke und welchen Beitrag leistet sie zum Allgemeinwohl? Vor diesem Hintergrund hat der Aussteller nicht nur die Aufgabe, die Marken-DNA kommunikativ herauszuarbeiten. Es geht auch darum, diese Botschaft erlebbar zu machen. „WOW“-Effekte zu bieten. Das lässt sich heutzutage übrigens auf eine ganz einfache Formel runterbrechen: Je mehr Handys gezückt werden, desto größer ist das Erlebnis. Gelingt einer Marke dieser „Zweiklang“ auf einer typischen Endkundenmesse, ist Substanz in Emotion verpackt. Eine nachhaltige Transformation von Ausstellung zu inhaltsgetriebenem Erlebnis findet statt.

MICE Club: Und die klassische Fachmesse?

Aktuell ist noch wenig von rückläufigen Besucherzahlen zu spüren – es kristallisieren sich keine Problemmessen wie Cebit oder IAA heraus. Eine Fachmesse wird auch in Zukunft immer eine Art Ausstellung bleiben und sich inhaltlich nicht ganz so stark verändern. Was schlicht daran liegt, dass die Inhalte von Industrieprodukten oftmals wesentlich komplexer und schwerer zu begreifen sind als ein Auto oder ein Handy. Das Produkt ist erklärungsbedürftig und nicht ausschließlich online konsumierbar. Somit sind Besucher vor der Messe auch weniger gut über das Produkt informiert. Zudem sind die Produkte meist in Nischen zu Hause und in der breiten Öffentlichkeit nicht verankert.

Ein entscheidender weiterer Punkt ist, dass das B2B-Geschäft oft etwas mit Spezialistentum zu tun hat. Diese Spezialisten werden in ihrem Fachgebiet in der Regel nicht von Werbung oder Marketingkampagnen beeinflusst, sondern von persönlichen Kontakten. Und genau das ist auch die Ausrichtung von Fachmessen. Doch auch bei Fachmessen beobachtet man natürlich, dass Produkte zunehmend digital, sprich im 3D-Raum, abgebildet werden. Das hat den Vorteil, dass so auf Wunsch ein breites Sortiment gezeigt werden kann. Als reales Abbild oder Highlight-Showcase werden die Produkte gewählt, die in möglichst emotionaler Form vermittelt werden können. Sprich „Erlebnis“ und „Emotion“ spielen auch hier eine große Rolle, auch wenn die Umsetzung produktbedingt mitunter schwierig und komplex ist. Statt der Marken-DNA steht das Expertentum im Fokus, Experten sprechen zu Experten (Summit-Charakter). Das wohl entscheidendste jedoch wird sein, Gäste so lange wie möglich in einer entspannten und wohligen Atmosphäre in seiner Welt zu halten und in die persönliche Interaktion zu treten. Das ist das Pfund der Fachmesse.

MICE Club: Das ist auch eine gestalterische Aufgabe...

Klar. Architektur, Inhalt und Präsentation gehen Hand in Hand, eine starke Tendenz geht in Richtung Lounge. Also weg von Produktschlachten hin zu Starbucks & Co. Oftmals ist ein guter Kaffee mit einer Sitzmöglichkeit und kostenlosem WLAN, begleitet von einem fachkundigen Vertriebler, mehr wert als Informations-Overflow „auf Teufel komm raus“.

MICE Club: Inwiefern kann die Digitalisierung hier unterstützen?

Gerade in diesem Punkt versuchen viele die Digitalisierung zum Heilsbringer zu stilisieren. Ich denke, wir sollten die Kirche im Dorf lassen und versuchen, uns mit diesem Begriff eher auf inhaltlicher Ebene auseinanderzusetzen. Einen Produktkatalog in einer App abzubilden und Kunden das neueste Produkt nun am Tablet zu präsentieren, ist zu kurz gedacht. Meine Erfahrung ist, dass Digitalisierung speziell in der Messebranche bisher nur an der Oberfläche funktioniert. Sieht etwas „digital“ aus, sind alle zufrieden. Ich präge gerne das Wort „Digitalwashing“. Wirkliche Digitalisierung etwa führt zu Ressourceneinsparungen durch effizientere Prozesse. Was heute jedoch nur schwer umzusetzen ist, da sowohl der Mut als auch das Verständnis dafür noch fehlen. Auch wenn das Potenzial gerade bei solch komplexen Prozessen und so vielen verschiedenen Stakeholdern wie in der Messebranche enorm ist.

MICE Club: Haben Sie dazu Beispiele, auch in Hinblick auf Nutzen & Mehrwert für alle Seiten, vom Besucher über den Aussteller bis zum Veranstalter?

Ein gutes Beispiel für die Digitalisierung in der Messebranche und eine Win-Win-Win-Situation sind intelligente Wegeleitsysteme. Der Besucher findet schnell zum gewünschten Ziel, er ist keinem Informations-Overflow ausgesetzt, sondern profitiert von einer sehr strukturierten Informationsvermittlung. Der Aussteller wird schnell gefunden, der Gast ist nicht gestresst, wenn er am Stand ankommt. Und der Veranstalter hat zufriedene Gäste und kann jederzeit das Gelände „steuern“.

Wenn wir das Ganze jetzt noch mit einer entsprechenden Heatmap koppeln und echte Datenanalyse betreiben, werden wir auch bald aus alten Mustern aus- und mit Glaubenssätzen wie „Leads als einziges Bewertungskriterium einer Messe“ brechen können. Alle Beteiligten haben echte Vorteile durch ein klassisches Digitalisierungsprojekt. Nicht zu vergessen der USP für den Betreiber des Geländes, der durch hocheffiziente Algorithmen auf Bedienerseite zudem interne Ressourcen spart. Genau das heißt für mich Digitalisierung der Messe.

MICE Club: Wie können sich einzelne Marken durch den Einsatz digitaler Technologien profilieren und abgrenzen?

Das hängt sehr von dem Nutzen und dem konkreten Einsatz einer digitalen Technologie ab. Wer beispielsweise auf seinem Messestand mit Hilfe eines Tools Aufmerksamkeit erzeugen kann, hat eben jene als Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Und wer dank digitaler Technologien viel Zeit und Kosten spart, profitiert von eben dieser Ressourceneinsparung.

MICE Club: Welche Trends beobachten Sie aktuell bei Ihren Kunden?

Kunden wollen die Reichweite ihrer Botschaften erweitern beziehungsweise verlängern. Ein Messestand soll also auch vor und nach der Messe noch Inhalte transportieren können. Dafür nutzen wir zum Beispiel den digitalen Zwilling eines Messestandes: vor der Messe eignet er sich für Standabnahmen oder Mitarbeiterschulungen und nach der Messe können sich dort Besucher informieren, die nicht vor Ort waren.

MICE Club: Hat die Gestaltung digitaler Räume Grenzen?

Ja natürlich. Eine Grenze ist zum Beispiel unsere viel geringere Aufmerksamkeitsspanne in der digitalen Welt. Wie schnell klicken wir auf das nächste Tab im Browser oder auf eine angezeigte Werbung beziehungsweise weitere Teaser? Es merkt ja keiner, wenn wir mal eben woanders surfen. Ganz anders ist das auf realen Events. Da sieht mein Gegenüber, wenn ich anfange, mich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Und das ist nur ein Beispiel. Manche Dinge lassen sich digital einfach nicht so gut erfahren. Schließlich haben wir mehr Sinne als nur das Hören oder Sehen, was zum Beispiel ist mit Riechen und Schmecken? Auch wenn wir das „Begreifen“ mit Unterstützung von VR-Anwendungen schon ein wenig nachahmen können, so richtig „echt“ ist es nicht.

MICE Club: Abschließend: Wie sieht für Sie die Messe der Zukunft aus? Und kann es „die“ Messe der Zukunft überhaupt geben?

Die Messe der Zukunft unterliegt natürlich wie alle anderen Bereiche unseres Lebens auch dem permanenten Wandel. Digitale Tools und vor allem Daten werden dabei helfen, sie smarter und effizienter zu organisieren. Da lässt sich noch einiges an Potenzial heben. Wir stehen gerade erst am Anfang der Entwicklungen.

MICE Club: Vielen Dank für das Gespräch.


Benjamin Lechler ist bei pave für Strategie und Beratung verantwortlich und hat für die pave GmbH Prokura. Der gelernte Dipl.-Ing. für Veranstaltungs- und Produktionstechnik ist seit 2003 bei pave und hat seinen MBA mit dem Schwerpunkt Eventmarketing und Live-Kommunikation an der TU Chemnitz absolviert. Er kennt die Wünsche der Kunden durch seine langjährige Tätigkeit in der MICE-Branche in- und auswendig. Sein Credo lautet: „Machen ist wie wollen, nur viel krasser".


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Bildquelle: https://messedigital.blog

Autor: Yvonne Egberink

Veröffentlicht am: 02.10.2019


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Helmut Knorr,
tableeleven GmbH
07. Januar, 16:13 Uhr

SgDuH, weshalb eine IAA mit 560.000 Besuchern von einem "Messefachmann" als Problemmesse interpretiert wird, würde mich wirklich interessieren. Es mag durchaus sein, dass der VDA und die Stadt Frankfurt problematische Führungskräfte und Kommunikationsabteilungen haben aber die IAA 2019 war für die meisten Aussteller - und auch Besucher - ein voller Erfolg. Gerne kann ich Ihnen dazu O-Töne empfehlen. Mit freundlichen Grüßen, Helmut Knorr

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