Jetzt MICE Club-Mitglied werden oder 30 Tage kostenfrei testen

Themensammlung - Change-Kommunikation

In Zukunft nur gemeinsam

Komplexität verlangt nach Kooperation - ein Interview mit Carolin Wolf

Die Online-Plattform für Zukunftsideen changeX behandelt Themen des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft. In Kooperation mit dem MICE Club veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen spannende Beiträge unseres Content-Partners, wenn wir diese für unsere Leserschaft interessant finden.

Unsere neue Realität erfordert ein neues Denken. Das nur ein gemeinsames Denken sein kann. Denn ein Hirn ist zu wenig für eine zunehmend komplexe Welt. Aber gemeinsames Denken entsteht nicht einfach so. Es verlangt den unbedingten Willen zur Zusammenarbeit. Das beginnt mit weniger Ego-Gehabe und erfordert eine kritische Distanz zur eigenen Wichtigkeit.

Meetings, in denen nicht gemeinsam gedacht wird, sind Zeit- und Geldverschwendung. Sagt Carolin Wolf. Und fordert, gemeinsamem Denken endlich Raum zu geben.


Carolin Wolf ist Beraterin mit den Arbeitsschwerpunkten Begleiten und Gestalten von Veränderungsprozessen, betriebliches Gesundheitsmanagement sowie Konfliktklärung. Die ausgebildete Diplom-Psychologin ist Geschäftsführerin von Wolf&Oberkötter Personal- und Organisationsentwicklung und Autorin des Buches „Gemeinsam Denken", erschienen bei BusinessVillage.

Frau Wolf, Sie fordern mehr gemeinsames Denken, gerade heute. Worin liegt die Herausforderung?

Die Coronakrise führt dazu, dass sich unsere Formen des Arbeitens gerade massiv verändern. Dienstreisen pausieren, viele arbeiten im Homeoffice, andere in Krisenstäben. Wir sind im Moment sehr stark darin gefordert, unserer Zusammenarbeit - gerade auch der über Telefon- oder Videokonferenzen - eine Qualität zu geben, die gemeinsames Denken wirklich fördert.

„Gemeinsam denken, machen wir doch!", würden wohl viele Unternehmen für sich in Anspruch nehmen - und auf die zahllosen Meetings verweisen. Was sagen Sie?

Meetings gibt es in beinahe allen Firmen, offline wie online auf den unterschiedlichsten Ebenen. Ob in diesen Meetings allerdings immer gemeinsam gedacht wird, ist fraglich. Es kommt nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität der durchgeführten Meetings an.

Qualität heißt?

Dass es gelingt, Komplexität zu reduzieren und Neues entstehen zu lassen. Gemeinsam Denken ist aber kein Selbstläufer. Viele Unternehmen klagen über zu viele Meetings, besonders dann, wenn die dort verbrachte Zeit nicht als effizient wahrgenommen wird. Manche Führungskräfte praktizieren sogar explizit ein „Meeting Detox" mit dem Ziel, Meetings gezielt zu reduzieren oder abzuschaffen. Hilfreich dabei sind Fragen wie „Muss dieses Meeting wirklich sein?" oder auch „Muss ich bei diesem Meeting dabei sein?".

Und dann?

Entscheidend ist aus meiner Sicht der Schritt von einer gemeinsamen Zusammenkunft hin zum gemeinsamen Denken mit erlebbarer Co-Kreation. In Zeiten von Electronic Multitasking fehlt häufig die Eintrittskarte für gemeinsames Denken: ungeteilte Aufmerksamkeit. Meetings, in denen gemeinsames Denken nicht stattfindet, sind Zeit- und Geldverschwendung.

Gemeinsames Denken ist also eine voraussetzungsvolle Angelegenheit? Es reicht nicht, wenn ein paar Leute ihre Köpfe zusammenstecken?

Gemeinsam Denken beinhaltet die Chance, dass etwas Neues entsteht. Oder anders ausgedrückt, dass ich zu Erkenntnissen komme, die ohne die Beiträge der anderen nicht möglich gewesen wären. Damit dies erreicht wird, benötigen wir zum einen die bereits angesprochene fokussierte Aufmerksamkeit und zum anderen eine Grundhaltung, die forschend die Äußerungen meiner Gesprächspartner hört - verbunden mit der Bereitschaft, diese Aussagen in den eigenen neuronalen Netzwerken zu verweben. Unsere Sozialisierung fördert uns sehr im Vertreten und Begründen eigener Aussagen. Diese Fähigkeit steht im Vordergrund. Deshalb kommt es gar nicht so selten vor, dass die Redezeit der anderen Beteiligten zum Zurechtlegen der eigenen Argumente genutzt wird. Ich nenne dies auch den „Werbeblock in eigener Sache". Gemeinsames Denken benötigt von der Haltung her allerdings Forschergeist statt Predigerqualitäten.

Also weniger Ego-Denken?

Ganz genau. Es gilt stets gut zu überlegen, ob die Intelligenz eines Einzelnen zur Lösung eines Problems ausreicht. Falls ja, dann herzlich gerne ein Ja zur Sonderaufgabe für eine Einzelperson. Falls nein, dann braucht es Haltungen und Formate, die das Potenzial der anderen anwesenden Gehirne nutzen.

Die oben genannte Frage „Muss ich bei diesem Meeting dabei sein?" verlangt eine kritische Distanz zur eigenen Wichtigkeit. Das heißt: Wie wichtig bin ich tatsächlich für dieses Meeting, dieses Thema?

Wir können uns bei den aktuellen Herausforderungen keine Verschwendung erlauben. Zeit ist eine Ressource, die sich nicht vermehren lässt. Es gilt achtsam mit der Ressource Zeit umzugehen. Die Teilnahme an einem Meeting, in dem ich nur meinen Körper und nicht meinen Kopf zur Verfügung stelle, ist Verschwendung. Sie behindert die anderen Meetingteilnehmer in ihrem Tun und hält mich selber von fokussierter Arbeit ab. Das gilt auch für virtuelle Meetings.

Um etwas weiter auszuholen: Worin liegt die Bedeutung gemeinsamen Denkens heute?

Wir erleben eine Zeit, die sich mit dem Akronym VUKA umschreiben lässt. VUKA beschreibt das Zusammenspiel von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Entwicklungen sind schwerer vorhersehbar, und insgesamt scheint unser bisheriges Repertoire zur Beherrschung der Komplexität nicht mehr auszureichen. Komplexität verlangt nach Kooperation. Krisen wie die Corona- und die Klimakrise lassen sich nur über gemeinschaftlich besonnenes Verhalten eindämmen. Die Komplexität der zu bewältigenden Herausforderungen verlangt nach Co-Kreation - sprich: Die Zeit der einsamen Einzelentscheidungen ist längst vorbei. Gefragt ist ein Dreischritt: Erstens gemeinsam unterschiedlichste Perspektiven und Sichtweisen zusammentragen, zweitens gemeinsam Fragen und Hypothesen formulieren und drittens mit Blick auf die Auswirkungen des jeweils vorherigen Schritts gemeinsam die nächsten sinnvollen Schritte planen.

Wenn Sie sagen, unser Repertoire scheint nicht auszureichen - das wird nicht immer so gesehen?

Eine große, wenn auch durchaus nachvollziehbare Gefahr ist das Verharmlosen von Komplexität. Typisch hierfür ist das Ausblenden: sich in Scheinsicherheit wiegen oder vorschnell nach vermeintlichen Lösungen greifen. Auch dieses Phänomen ist übrigens im Zusammenhang mit der Coronakrise vielfach zu beobachten.

Gemeinsames Denken hingegen erfordert die Bereitschaft, sich mit anderen gemeinsam auf die Suche zu begeben. Und es erfordert eine Risikokompetenz verbunden mit der Entschiedenheit, Ambivalenzen aushalten zu können. Gelingt dies, nähern wir uns Schritt für Schritt den tatsächlich zu lösenden Themen. Und hören auf mit dem von Richard David Precht beschriebenen Umdekorieren der Liegestühle auf der Titanic.

Sie beginnen Ihre „Zutatenliste für gemeinsames Denken" - das Resümee am Ende Ihres Buchs - mit Themen, die Selbstfürsorge betreffen. Das ist vermutlich kein Zufall. Zugespitzt gefragt: Denken beginnt beim eigenen Körper?

Absolut. Ein funktionsfähiges Gehirn braucht Sauerstoff ebenso wie eine ausreichende Versorgung mit Flüssigkeit, Omega-3-Fettsäuren und Glukose. Die Sauerstoffversorgung verschlechtert sich bei einem stark verspannten und dauersitzenden Körper, von schlecht gelüfteten Meetingräumen ganz zu schweigen. Auch höre ich immer wieder von Führungskräften, dass sie nicht die täglich empfohlene Trinkmenge zu sich nehmen, da sie dies im Stress des Tages schlichtweg vergessen.

Hier können einfache Mittel Abhilfe schaffen: Zum Beispiel in jedem Meeting strikt auf die Pausen achten und dafür sorgen, dass Bewegung, Flüssigkeitsaufnahme und frische Luft nicht zu kurz kommen. Aber auch ein gezielter Einsatz alternativer Meetingformate schafft gute Voraussetzungen für Körper und Gehirn - eine „Stehung" zum Beispiel, ein Kurzmeeting im Stehen, oder auch ein „Gedankengang", der Gedankenaustausch während eines kurzen Spaziergangs.

Welche Bedeutung hat die Atmosphäre für gemeinsames Denken? Sie kommt in Ihrer Liste gleich nach der Selbstfürsorge.

Solange Worte wie „eliminieren", „unsere Truppe", „Gewehr bei Fuß" oder „an vorderster Front" noch selbstverständlich genutzt werden, sind wir weit entfernt von einer Begegnung auf Augenhöhe und einer fehlerfreundlichen Lernkultur. Beides aber ist Voraussetzung für aktives gemeinsames Denken und Handeln. Der Psychologe Gerd Gigerenzer beschreibt sehr anschaulich, welche fatalen Auswirkungen es hat, wenn Mitarbeitende und Führungskräfte aufgrund eines fehlerfeindlichen Klimas in eine defensive Haltung verbunden mit einem sogenannten Absicherungsmodus verfallen: Das verhindert Innovationen und verursacht enorme Kosten.

Was muss gegeben sein, damit gemeinsames Denken gelingt?

Die Eintrittskarte für gemeinsames Denken ist zunächst einmal der gemeinsam getragene Sinn - ein allen erkennbares klares „Wofür". Zudem ist Klarheit über das zur Verfügung stehende Spielfeld nötig. Also Klarheit über die gegebenen Leitplanken: Was sind die vorgegebenen Rahmenbedingungen? Und welcher Handlungs- und Entscheidungsspielraum, innerhalb dessen gemeinsames Denken und Handeln wirksam werden kann, ergibt sich daraus? Ist das transparent, braucht es im nächsten Schritt ein „Ja" zum gemeinsamen Denken. Statt des üblichen „ich weiß eh, wo es langgeht". Das ist entscheidend. Darüber hinaus ist eine gemeinsame Bereitschaft für den Umgang mit Ungewissheit und mit Ambivalenzen sehr förderlich, um nicht in vorschnelle, oberflächliche Lösungen zu verfallen.

Nicht zu vergessen ist das Zusammenspiel der Beteiligten. Erlebnisse gemeinsamen Denkens und Handelns stärken die gemeinsamen Haltungen und Beziehungen untereinander. Gleichzeitig wird die Zusammenarbeit umso leichter, wenn es gemeinsam getragene Haltungen und gefestigte Beziehungen gibt. Der MIT-Forscher Otto Scharmer vergleicht solche gemeinsamen Haltungen und Beziehungen mit der Bodenqualität in der Landwirtschaft. Sie ermöglichen erst eine erfolgreiche Zusammenarbeit. In sie gilt es zu investieren.

In der heutigen Zeit sind Tools und Werkzeuge en vogue. Welche Werkzeuge können helfen, dass gemeinsames Denken gelingt? Was sind Ihre bevorzugten Hilfsmittel?

Es gibt eine Vielzahl hilfreicher Werkzeuge. Hierzu zählt ein gekonnter Wechsel zwischen den Disziplinen Diskussion und systemischer Dialog, wie dies der Organisationsberater und Systemforscher Peter Senge beschrieben hat. Im systemischen Dialog lege ich den Schwerpunkt auf das gemeinsame Erforschen und Zusammentragen der unterschiedlichsten Sichtweisen und Annahmen. Klassische Meetings hingegen zählen zur Disziplin der Diskussion. Ziel hierbei ist es, gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Und auch hinsichtlich des Treffens von Entscheidungen lohnt sich ein Blick auf das Wie: Es gibt Alternativen zur klassischen demokratischen Mehrheitsentscheidung. Agile Teams verfügen über ein breites Repertoire an Formaten für das Fällen von Entscheidungen. Das Systemische Konsensieren von Erich Visotschnig und Siegfried Schrotta ist zum Beispiel ein Verfahren, welches ich sehr gerne anwende. Hierbei wird explizit nicht gefragt, wer dafür ist, sondern es werden die vorhandenen Bedenken und Widerstände eingesammelt. Ausgewählt wird dann die Lösungsvariante mit dem geringsten Gruppenwiderstand. Dies führt in der Folge dazu, dass die vorhandenen Bedenken deutlich stärker gehört und bei der Weiterentwicklung der Lösungsvorschläge einbezogen werden. Das kann letztendlich zu qualitativ hochwertigeren Lösungen führen. Gleichzeitig entfällt die Unterteilung in Gewinner oder Verlierer - wie wir sie bei der demokratischen Mehrheitsentscheidung kennen.

Zu guter Letzt noch ein zentraler Hinweis auf das Wie in den Meetings. Aktuell erleben wir ausgelöst durch die Situation rund um Covid-19 eine sehr steile Lernkurve in der Übertragung dieses Wissens auf virtuelle Meetings. Egal ob online oder offline lässt sich mit einer guten Dramaturgie, einem gemeinsamen Beginn, mit Klarheit über die Themen sowie einem guten Einsatz des Werkzeugs der Visualisierung die Qualität des gemeinsamen Denkens unterstützen. Nicht zu vergessen bei all diesen Werkzeugen ist jedoch, dass der Kern des gemeinsamen Denkens immer in der Haltung und nicht in den Tools begründet ist.

Dieses Interview veröffentlichen wir in enger Kooperation mit der Online-Plattform changeX.


changeX ist die Online-Plattform für Zukunftsideen, neue Wirtschaft und Innovation. changeX behandelt Themen, die morgen wichtig werden. In Essays, Interviews, Buchrezensionen und Reports suchen wir nach Ideen mit Zukunft. Im Mittelpunkt: Innovation, Führung, Management, Wirtschaft, Bildung, Denken, Zukunft und andere Themen des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft. Motto: „In die Zukunft denken“. Ziel: Angesichts der Turbulenzen der Zeit den Überblick zu wahren.

changeX erscheint im Abonnement online unter http://www.changex.de und ist in den sozialen Netzwerken Twitter, Facebook und XING vertreten. Abonnenten können alle Beiträge auf dem Portal lesen und im Archiv mit mehr als 4.000 Artikeln recherchieren. changeX bietet Abo-Angebote für unterschiedliche Nutzerinteressen vom Lesen bis hin zum Weitergeben von Beiträgen unter Creative-Commons-Lizenz. http://www.changex.de/Page/AboOverview


Das könnte Dich auch interessieren:


Bildquelle: https://wolf-oberkoetter.de/

Autor: Winfried Kretschmer (Gastautor)

Veröffentlicht am: 06.08.2020


Verfasse einen Kommentar

×

×