Das „Kenn ich schon“-Dilemma
Wenn Originalität zum Mainstream und Kult zum Kommerz wird
Mehr denn je leben wir in einer Zeit ständiger Innovationen, die vor allem durch die Digitalisierung vorangetrieben werden. Schon oft haben wir darüber berichtet, dass die Eventbranche nicht nur Showbühne für den digitalen Transformationsprozess ist, sondern durch diesen selbst auch verändert wird.
Nun ist natürlich nicht jeder neue Trend gleichermaßen zukunftsfähig, aber das darf der Veranstaltungswirtschaft zum Glück weitgehend egal sein. Denn hier geht es am Ende einzig und allein ums kurzzeitige Erleben und nicht um langfristige Marktkonzepte. So oder so hat das exponenzielle Wachstum vor allem im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu gravierenden Umwälzungen geführt, die immer schneller und zahlreicher in der Gesellschaft angekommen sind. Beispielhaft hierfür steht die Einführung des iPhones im Jahr 2007. Seit diesem Meilenstein wurde vieles vom Markt gefegt, was bis dahin noch „State of the Art“ war.
In der Ökonomie spricht man von Disruption, wenn derartige Umbrüche stattfinden. In der Theorie lassen sich daraus zwei Kernaussagen ableiten:
- Was gestern noch angesagt war, mag heute nicht mehr benötigt werden.
- Was heute noch als innovativ gilt, kann morgen schon Mainstream sein.
Disruption auf allen Ebenen
Da die MICE- und Eventbranche vor allem mit Neuem „hantiert“, mit Trends und Innovationen, ist sie stark von den Disruptionen der Gegenwart betroffen. In immer schnellerem Rhythmus verliert das Kultige, das Einzigartige seinen Charme und seinen Reiz. Entweder, weil es tausendfach kopiert wird, Global Player kleine Start-Ups schlucken oder eine reizvolle Grundidee plötzlich durchkommerzialisiert wird.
So gibt es bei eBay kaum noch Gebrauchtes und über Airbnb kaum noch echte Privatunterkünfte. Die „Come as you are“-25hours-Hotelkette ist von Accor übernommen worden und Bionade-Limonaden von der Radeberger-Gruppe. Facebook hat sich derweil WhatsApp einverleibt und plant, dass selbst auf dieser Plattform bald Werbung nach US-amerikanischem Vorbild betrieben werden kann. Währenddessen bekennen sich bereits drei Viertel der Bevölkerung als „App-müde“ und nutzen digitale Neuerungen nur noch sehr selektiv.
Die Eventbranche ist mitnichten Innovationstreiber, aber sehr wohl Innovationsvermarkter. Man erfindet keine Trends, sondern greift das auf, was gefragt und angesagt ist. Da der Gast wiederum erwartet, stets etwas Neues „aufgetischt“ zu bekommen, ist die Ernüchterung bisweilen groß, da Trend A oder Hype B längst im Mainstream angekommen sind. Das gilt übrigens längst nicht nur für technologiegetriebene Bereiche. „Aufgetischt“ ist daher ein ausgezeichnetes Stichwort.
Monotonie auch in der Gastronomie
Nehmen wir etwa das Beispiel Catering: Zu Beginn der Nuller-Jahre war Sushi der ultimative Renner. Heute stehen selbst bei Lidl frische Sushi-Boxen in allen Größen und Varianten im Kühlregal. Seit einiger Zeit ist es der Burger-Boom, der Appetit auf mehr macht. Aber wie lange noch? Mit „Pulled Pork“- und Veggie-Varianten holt man derzeit das Letztmögliche aus diesem Gastrotrend heraus, der sich – wie übrigens auch der aktuelle Gin-Hype – von New York und Los Angeles via London in kürzester Zeit auch über das europäische Festland ausgebreitet hat. Schon gibt es kultigen Gin aus dem Schwarzwald, für fast 30 Euro pro 0,5 Liter. Währenddessen gelten Desserts im Glas schon wieder als out, weil mit Sternen dekorierte Influencer das einfach mal so behaupten.
Für die Caterer ist es ein schwieriges Unterfangen, gleichzeitig up to date und originell zu sein. So kommt es vor, dass phasenweise alles zum „Einheitsbrei deluxe“ mutiert, weil dieser am besten den Massengeschmack bedient, auch wenn er elitär daherkommt. Ähnlich verhält es sich mit vielen Locations. Wer kann heute schon noch behaupten, noch nie in einer alten Fabrikhalle zwischen alten Stahlträgern und historischem Mauerwerk unter dem Einsatz modernster Lichttechnik mit angesagten DJs gefeiert zu haben? Natürlich ist es per se gut, wenn alte Gebäude auf diese Weise wieder eine neue Nutzung erfahren, aber am Ende sieht es doch irgendwie immer gleich aus – ganz egal, ob es die alte Schiffswerft oder das ehemalige Umspannwerk ist, das fortan als Versammlungsstätte und Partylocation dient.
Führen immer mehr Möglichkeiten zu immer weniger Chancen?
Von außen betrachtet scheint es ein großes Glück für jeden Eventplaner zu sein, über mehr kreative und planerische Optionen zu verfügen denn je. Gleichzeitig manifestiert sich darin aber das Dilemma der Branche. Denn so gesehen ist fast alles schon einmal dagewesen. Es gibt ihn praktisch nicht mehr, den ganz großen Wurf im Eventbusiness. Die ultimative Überraschung bleibt oft genug selbst dann aus, wenn das Budget ein „digitales Feuerwerk der Sinne“ hergeben sollte. Im Umkehrschluss stellt sich die Frage, womit sich der Besucher von heute überhaupt noch in Erstaunen versetzen lässt!?
Mit dieser Frage beschäftigen sich auch die großen Konzerne, vor allem im digitalen Umfeld. Und siehe da: Das Zauberwort heißt Individualisierung. Wer sich den Diensten von Amazon, Facebook, Google und Co. nicht gänzlich verweigert, erlebt dies heute schon in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Tatsächlich verschickt selbst Google dieser Tage analoge Werbebriefe an seine Businesskunden, ganz klassisch mit beigelegtem Coupon und Aufkleber. Warum? Weil heutzutage kaum noch jemand mit einem Direct-Mailing rechnet, erst recht nicht seitens eines Internetkonzerns.
Weg von der Massenkompatibilität und vom kleinsten gemeinsamen Nenner – das mag eine Denkweise sein, die sich in den Köpfen vieler Eventplaner erst durchsetzen muss. Es muss ja nicht unbedingt die ohnehin schon überfüllte Touristenhochburg sein (wir berichteten). Warum nicht mal die Anreise in eine polnische Provinzstadt schon zum Event werden lassen, eine Folkpunk-Band auf die Bühne bitten, „Mutters“ Spezialitäten zum Dinner reichen und den Kreativworkshop auf einem Bauernhof durchführen? Klingt komisch, oder? Es mag auch nur dann ratsam sein, wenn man die speziellen Vorlieben seiner Gäste kennt, aber genau darum geht es.
Es geht ums Individualisieren und ums Denken „without a box“, wie es der Philosoph und Zukunftsforscher Bernhard von Mutius formuliert. Er sieht weniger die digitale denn eine kreative Revolution auf uns zukommen. Sinngemäß sagt er: „Wir haben keine Ahnung, was in fünf oder zehn Jahren sein wird. Das Nichtwissen gehört in Umbruchsituationen dazu. Nur wenn wir dieses Nichtwissen ernst nehmen, haben wir die Chance, etwas überraschend Neues zu machen. Etwas, das sich nicht in vorgezeichneten Bahnen bewegt, die insbesondere die großen Player vorgeben.“
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt
Neue Ideen wachsen natürlich nicht auf Bäumen. Es ist mit einigem Arbeitsaufwand und einem gewissen Restrisiko verbunden, Eventwege zu beschreiten, die nicht vorrangig massenkompatibel sind. Und ganz sicher ist es auch immer ein Balanceakt. Zwar will jeder Organisator das Besondere, am besten etwas Unvergessliches kreieren. Am Ende aber versucht man in der Regel doch, sehr unterschiedliche Geschmäcker, Meinungen und Vorlieben auf möglichst harmonische Art unter einen Hut zu bringen.
Vielleicht sind gerade in digitalen Zeiten „Back to the roots“-Konzepte gefragt, die aktuell kaum mehr als zeitgemäß gelten. Womöglich mag ein handbemaltes Flipchart im Schlosspark aber mehr Erlebnischarakter beinhalten als die durchgestylte Präsentation in einem mit modernster Medientechnik ausgestatteten Raum. Nach wie vor gilt zu beachten, dass sich der Erfolg einer Veranstaltung am Ende nicht über den Zeitgeist oder das Spektakuläre definiert, sondern über den persönlichen Wohlfühlfaktor und die zwischenmenschliche Interaktion.
Es mag daher tatsächlich kontraproduktiv sein, sich bei der Eventplanung auf Statistiken oder Umfragen zu verlassen, die nahelegen, dass 90 Prozent der Tagungsgäste sich A wünschen und nur 10 Prozent für B plädieren würden. Dabei mag es gerade die Minderheit sein, die positiv bis schwärmerisch über ein Event berichtet und damit gleichzeitig als Multiplikator und Meinungsbildner – oder besser neudeutsch ‚Influencer‘ – fungiert. Oder wussten Sie, dass 90 Prozent aller Facebook-User reine „Leser“ sind und sich gar nicht an Diskussionen jedweder Art beteiligen? Natürlich mögen die genannten Prozentsätze nicht mit den tatsächlichen Verhältnissen korrelieren. Es soll nur der Orientierung dienen.
Es ist und bleibt ein Spiel von „Try & Error“, die Veranstaltungskonzeption, aber das ist ja auch das Spannende daran. Nun ist jede Veranstaltung faktisch ein bunter Gemischtwarenladen, der sich etwa aus Meetings und Präsentationen, Shows und Partys, Vorträgen und Workshops, Ausflügen und Sightseeing sowie aus Gästebetreuung und -versorgung zusammensetzt. Das positive Eventerlebnis wird immer über die Summe der einzelnen Teile wahrgenommen. Es bedarf nicht eines angesagten Highlights oder eines aktuellen Techniktrends, damit Ihr Event zum Star wird. Mehr Eindruck erzielen Sie, wenn Ihre Gäste das Unerwartete – die Überraschung – erwarten dürfen. Dazu müssen Sie selbstredend mit gutem Beispiel vorangehen und sich bereits in der ersten Planungsphase freimachen vom glattgebügelten Mainstream.
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Bildquelle: Frank Brehm