Events im digitalen Zeitalter
Oder: Weshalb mittlerweile 30 Sekunden genügen, um Ihre Zuschauer zu verlieren
Gastautor Georg Lichtenegger ist Konzeptioner, Texter und Projektmanager für nationale und internationale Corporate Events. Durch seine langjährige Beschäftigung als Theaterautor und -regisseur arbeitet er mit dramaturgischen Elementen aus verschiedenen performativen Gattungen und gestaltet so auch eher informative B2B-Events als spannende Erlebnisse.
Dass wir in Zeiten des digitalen Umbruchs leben, pfeifen die Spatzen landauf und landab von allen Dächern. Auch die Eventbranche spürt, dass sich vieles ändert – oft werden allerdings nur technische Neuerungen in den Betrachtungsfokus genommen.
An dieser Stelle soll einmal genauer untersucht werden, wie sich die Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen im digitalen Umfeld verändern. Denn die technischen Entwicklungen entscheiden auch über unser Wahrnehmungsverhalten bzw. sogar über die uns angebotenen Inhalte. So nimmt beispielsweise die Plattform Spotify mittlerweile erheblichen Einfluss auf das Verhalten von Komponisten. Da der Streaming-Dienst abgespielte Songs erst ab 30 Sekunden zählt, diese Zählung aber für Musiker und Plattenlabes äußerst relevant ist, komponieren nun viele auf diese 30 Sekunden-Schwelle hin und möchten so erreichen, dass die umworbenen Zuhörer – wenn überhaupt – frühestens danach weiterskippen. So zählt Spotify die Wiedergabe des Liedes und dieses steigt in allerlei Rankings, die wiederum für den Erfolg der Macher entscheidend sind.
Was haben diese 30 Sekunden nun aber mit einem Event zu tun? Nun, aus der Wahrnehmungsperspektive der Zuhörer bzw. Zuschauer ist ein Popsong (wie auch ein Film, ein Theaterstück, ein Konzert oder auch ein Buch) ein Medium, das man über einen bestimmten Zeitverlauf wahrnimmt. Ein Element folgt auf das andere, man kann auch sagen, die Elemente „laufen linear ab“. Ein Gegenbeispiel eines nicht-linearen Mediums ist ein Bild: Hier bietet sich dem Betrachter alles auf einmal und er kann selbst entscheiden, welchem Detail er sich wann zuwendet.
Was lineare Medien und so auch Events angeht, gibt es nun eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist: Noch wurde keine App erfunden, mit der ein gelangweilter Zuschauer einen Akteur von der Bühne skippen könnte. Die schlechte Nachricht ist jedoch: Bei einem Event reicht es, wenn der Zuschauer im Kopf weiterskippt und gedanklich abschweift, um den Kommunikationserfolg zunichte zu machen. Was man ihm nach seinem innerlichen Weiterskippen zuwirft, wird ihn nicht mehr erreichen, da seine Aufmerksamkeit nicht auf den Absender gerichtet ist.
Nun lässt sich beobachten, dass im digitalen Zeitalter aufgrund der vielfältigen Verfügbarkeit immer detaillierter durchdachter Medien die Zuschauer immer schneller weiterskippen. Nicht nur die Komponisten auf Spotify reagieren auf diesen Umstand. Auch professionell erstellte Videos in Social Media-Kanälen versuchen, besonders energiegeladen und vielversprechend zu beginnen, um ihre Zuschauer möglichst lange zu fesseln. Was soll man als Eventkonzeptioner daraus folgern? Etwa künftig auch laut schreiend seine Veranstaltung zu beginnen – „GUTEN ABEND MEINE SEHR VEREHRTEN DAMEN UND HEEERRREEEEN!!!“?!? Wohl eher nicht…
Betrachtet man genauer, worauf die Konzeptioner der Medien etwa für Spotify oder YouTube abzielen, dann fällt auf, dass diese beim Zuschauer vor allem Spannung wecken wollen. Sie wollen ihn neugierig machen auf das, was nach den für sie entscheidenden 30 Sekunden kommt. Sie versuchen zu erreichen, dass der Zuschauer ihnen möglichst lange folgt. Dieses „gespannte Folgen“ des Zuschauers wird klarer, wenn man sich mit Drehbuch- oder Theatertheorie beschäftigt: Ein Film ist ein ausgeklügeltes Werk, in dem ein Ereignis auf das andere (ab)folgt. Aus dieser Abfolge entsteht ein Spannungsbogen und somit eine fesselnde Geschichte. Denken Sie an einen guten Thriller: Wenn Sie ihn sehen, bekommen Sie da einen Impuls zum Weiterskippen? Nein, der ausgefeilte Spannungsbogen hält sie gespannt und „zieht“ sie vom Anfang bis zum Ende durch den Film. Auf jeweils eigene Weise funktioniert das auch bei anderen guten Filmgenres. Und bei den wirklich guten Filmen sogar beim wiederholten Ansehen.
Geht es also darum, eine erfolgreiche Veranstaltung zu konzipieren und alle gewünschten Emotionen und Informationen zu kommunizieren, ist es essenziell, dass beim Betrachter keine Impulse zum Weiterskippen im Kopf aufkommen. Diese sind wiederum ausgeschlossen, solange der Zuschauer „gespannt“ bleibt. Gespannt ist ein Zuschauer, wenn er darauf wartet, dass etwas Bestimmtes passiert oder entschieden wird.
Um dieses gespannte Interesse zu erreichen, müssen zwei Faktoren gegeben sein: Erstens muss man Zugang zum Gebotenen finden, man muss also „gespannt“ werden. Das ist der Zeitpunkt, wenn man dem Spannungsbogen zum ersten Mal folgt. Dazu muss für den Zuschauer etwas unklar werden, an dessen Klärung er interessiert ist. Oder ein Konflikt wird dargelegt, und man bleibt so lange gespannt, bis sich dieser wieder auflöst.
Ungeklärtes oder Konflikte eignen sich also sehr gut, um die Spannung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten. Es muss aber nicht unbedingt von Anfang bis Ende der gleiche Konflikt sein. Diese können sich abwechseln. Empfehlenswert ist nur, dass die Lösung eines Konflikts jeweils den neuen Konflikt oder das neue Ungeklärte auslöst.
Besonderes Augenmerk sollten Sie auf das erstmalige Gespanntwerden Ihrer Zuschauer legen – sowie auf die letzte Auflösung eines Konflikts oder Geheimnisses. (Da man natürlich die Zuschauer über die gesamte Dauer der Veranstaltung in Spannung versetzen möchte, ist das der Anfang und das Ende des Events.) Wenn man mit Unklarheit, die es zu klären gilt, arbeiten möchte, dann funktioniert das nur, wenn diese Klärung für den Betrachter auch interessant ist. Mit anderen Worten: wenn es für ihn um etwas geht. Falls sich dieses Etwas erst in der Zukunft realisieren wird, dann ist es auch von Bedeutung, mit welcher Stimmung ein Event zu Ende geht – und eben diese Zukunft beginnt.
Natürlich ist der dramaturgische Spannungsbogen keine Erfindung des digitalen Zeitalters. Wir kennen ihn im Grunde seit Aristoteles, und der hat ihn nicht erfunden, sondern nur analytisch beschrieben. Und auch bei Corporate Events ist eine wohldurchdachte Dramaturgie mit Sicherheit kein Novum. Neu ist aber, wie verwöhnt die Zuschauer heute in Zeiten der ständigen Verfügbarkeit extrem ausgefeilter linearer Medien sind. Das macht es nicht gerade leichter, die Teilnehmer in Spannung zu versetzen.
Darin liegt allerdings auch eine Chance: Wem es mit den richtigen Mitteln gelingt, für sein Business Event wirkungsvolle Spannungsbögen und Energiekurven zu konzipieren und umzusetzen, der wird aus der Masse herausstechen – und ein Feedback bekommen, auf das viele andere vergeblich warten. Denn zum einen ersetzt für die Deutschen der virtuelle noch lange nicht den persönlichen Kontakt. Und zum anderen schaffen gute Veranstaltungen auch das mitunter authentischste Videomaterial für eine digitale Auswertung. Wie das geht, kann man sich – besonders gelungen – bei Steve Jobs abschauen oder auch bei vielen TED-Konferenzen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf http://georglichtenegger.de/evdigitalzeita.htm
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