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Themensammlung - Meetingarchitektur, Change-Kommunikation, Employer Branding

Strukturen, die befreien

„Die meisten Instrumente sind so leicht zu erlernen, dass jeder sie anwenden kann" - ein Gespräch mit Johannes Schartau

Die Online-Plattform für Zukunftsideen changeX behandelt Themen des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft. In Kooperation mit dem MICE Club veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen spannende Beiträge unseres Content-Partners, wenn wir diese für unsere Leserschaft interessant finden.

Zu viel Macht. Oder zu wenig Macht. Beides ist nicht gut. Denn beides verhindert eine funktionierende Zusammenarbeit - Redezeit ist ungleich verteilt, die eine Meinung hat mehr Gewicht als die andere, Menschen haben Angst, ihre Ideen preiszugeben. Ein Methodenset soll es Gruppen ermöglichen, ihre Zusammenarbeit wirkungsvoll zu gestalten. Indem es, basierend auf der Komplexitätstheorie, Strukturen an die Hand gibt, die befreien: Liberating Structures.

Menschen können mit passenden Strukturen kreative Energie freisetzen, die sonst in ermüdenden Auseinandersetzungen verloren ginge. Das ist die Grundidee von Liberating Structures, einem Methodenset, das von Keith McCandless und Henri Lipmanowicz, Mitgründern des Plexus Institute in Washington D. C., zusammengestellt wurde. Über Liberating Structures und die Ideen dahinter haben wir mit Johannes Schartau gesprochen. Johannes Schartau ist Agiler Coach, Consultant, Trainer und Experte in der Anwendung von Liberating Structures. Er arbeitet bei Holisticon. Die Holisticon AG, eine Management- und IT-Beratung aus Hamburg, sponsert die deutsche Webseite von Liberating Structures, hat die Übersetzung der Texte ins Deutsche besorgt und die App Liberating Structures gebaut, die für iOS und Android erhältlich ist.

Herr Schartau, gibt es nicht schon genug Methoden und Methodensets für die Arbeit mit Gruppen auf dem Markt?

Das könnte man wahrscheinlich so sagen. Allerdings scheinen sich die bisherigen Methoden wenig so im Alltag durchzusetzen, dass sie breitflächig herkömmliche Interaktionsmuster ablösen. Die Realität sieht einfach so aus, dass täglich Gruppen unpassend miteinander arbeiten, mit den Ergebnissen und der Interaktion nicht zufrieden sind und viel Frustration erleben. Liberating Structures können dabei helfen, da sie deutlich einsteigerfreundlicher und weniger von Expertenwissen abhängig sind.

Was genau hat man sich unter Liberating Structures vorzustellen?

Die kurze, oberflächliche Antwort wäre: ein Menü aus 33 plus einige in Arbeit befindliche Mikrostrukturen, die die Interaktion von Menschen strukturieren. Die tiefere Antwort ist, dass es um eine andere Art und Weise des Miteinander-Umgehens geht. Für Einsteiger ist wichtig, dass es leicht erlernbare Methoden sind, um die Arbeit in Gruppen zu organisieren.

Wie würde man den Begriff ins Deutsche übersetzen?

Man kann natürlich einfach „befreiende Strukturen" sagen. Doch auf Deutsch klingt das ein bisschen merkwürdig. Im Kern geht es genau um den in dem Begriff enthaltenen Widerspruch: Wir empfinden Struktur oft als einengend, aber Struktur kann auch dafür sorgen, dass Dinge möglich werden, die vorher nicht möglich waren. Man kann durch das Geben von Strukturen Ideen befreien, Menschen befreien, Interaktionen befreien, Firmen befreien.

Es steht das Moment der Befreiung im Vordergrund?

Explizit steht diese Befreiung im Vordergrund. Und die Struktur ist so klein wie möglich, um diesen Effekt zu erzielen.

Was zeichnet diese andere Art und Weise des Miteinander-Umgehens aus, von der Sie sprechen?

Dass Zuhören so wichtig ist wie Sprechen. Dass die besten Ideen oft aus unerwarteter Richtung kommen. Dass diese Ideen durch Interaktion mit anderen zu etwas werden, was nie jemand alleine hätte erreichen können. Dass wir als Menschen wirklich vernetzt und aufeinander angewiesen sind. Dass wir mit passenden Strukturen kreative Energie befreien können, die vorher in Auseinandersetzungen verloren gegangen ist. Und dass wir mit dieser Energie tatsächlich echte Veränderungen in der Welt hervorrufen können.

Was sind diese 33 plus ein paar Strukturen? Ist das ein Framework, ein Methodenset, ein Werkzeugkasten …?

Werkzeugkasten trifft es am besten. Darin sind auch etliche Methoden enthalten, die nicht unbedingt neu sind. Entscheidend aber ist, dass alle durch rigorose Tests gegangen sind, um zwei Dinge zu erreichen: erstens, dass jeder sie leicht und schnell anwenden kann, dass also die Einstiegshürde niedrig ist, und zweitens, dass reproduzierbar überdurchschnittlich gute Ergebnisse dabei herauskommen.

Die 33 Instrumente sind nach fünf sogenannten Mikrostrukturelementen sortiert: Es gibt eine klare Einladung; es ist klar, wie die Redezeit verteilt wird; und es ist klar, wie die Gruppen konfiguriert, wie Materialien verteilt sind und wie der Raum aufgestellt ist.

Also eine klare Struktur?

Genau. Da alle Strukturen nach diesem Muster organisiert sind, haben sie eine größere Klarheit und Einfachheit in der Anwendung.

Befreiung ist ein emphatischer Begriff, der zugleich eine negative Wertung des Bestehenden beinhaltet. Was ist so schlecht an den vorhandenen Strukturen, Zusammenarbeit zu organisieren?

Vor allem sind es zwei Extreme. Auf der einen Seite wird oft zu wenig Macht ausgeübt. Beispiel: die große, offene Diskussion, an der alle beteiligt sind. Dabei geht man davon aus, recht bald einen Konsens zu erreichen, wenn alle ihre Meinung gesagt haben. Doch verlieren wir uns regelmäßig in irgendwelchen Nebenfeldern, sprechen über Themen, die gar nicht so relevant sind - und dann muss dieses noch gesagt oder jener Punkt noch geklärt werden. Das alles ist extrem anstrengend und ermüdend.

Auf der anderen Seite haben wir eine hohe Machtausübung, die ebenfalls Ergebnisse blockiert. Etwa in einer geführten Diskussion oder einer Präsentation, wo die Redezeit extrem ungleich verteilt ist. Im klassischen Meeting kommt hauptsächlich der Chef zu Wort, die Ideen aber, die im Raum sind, bleiben verborgen. Das Potenzial von Gruppen wird also gar nicht genutzt, weil die Machtverhältnisse das - oft auch gewollt - verhindern.

Inwiefern gewollt?

Platt gesagt: Der Chef hat recht. Ich male jetzt bewusst ein Schwarz-Weiß-Szenario. Klassischerweise sind die meisten Firmen so strukturiert: Je weiter oben jemand in der Hierarchie steht, desto mehr Gewicht hat seine Meinung. Die Entscheidung ist oft schon vor einem Meeting gefallen, darin geht es dann nur noch darum, die anderen Leute davon zu überzeugen. Solche Meetings sind nicht wirklich offen, ihr Ziel ist nicht, alle zu beteiligen, sondern nur noch abzusegnen, was die wichtigen Menschen sich vorher schon ausgedacht haben.

Ich finde es interessant, dass Sie das als Problem der Machtverteilung beschreiben, nicht als eines des Verfahrens. Zu viel Macht und zu wenig Macht - wo liegt die Lösung?

Es geht nicht um richtig oder falsch. Eine offene Diskussion oder eine Präsentation sind nicht an und für sich falsch. Es sind nur übergebrauchte Meetingstrukturen, die oft nicht dem Zweck dienlich sind. Was die Liberating Structures auszeichnet: Sie erweitern das Spektrum der Möglichkeiten um mindestens 33 weitere Optionen, mit denen man diese Machtverteilung, vor allem die Verteilung der Redezeit, anders strukturieren kann.

Ein Kollege von mir sagt immer: Liberating Structures ermöglichen, dass sich Ideen durchsetzen, sogar die guten. Das fasst das sehr schön zusammen. In herkömmlichen Strukturen ist es gelinde gesagt nicht immer der Fall, dass sich die guten Ideen durchsetzen dürfen.

Es gibt ein Phänomen, das man als das Karl-Valentin-Problem von Meetings beschreiben könnte: Gesagt worden ist schon alles, aber nicht von jedem. Was würde dabei durch die Anwendung von Liberating Structures anders?

Liberating Structures haben ihre Wurzeln in der Komplexitätstheorie. Sie gehen davon aus, dass in der Interaktion von Menschen gemeinsam neue Ideen generiert werden. Es kommt also nicht in erster Linie auf Einzelideen an, sondern durch das Zusammenarbeiten können neue Ideen entstehen, die allein nicht denkbar waren. Das ist das eine.

Das andere ist: Liberating Structures machen es möglich, dass jeder in einem Raum zu Wort kommt, dazu aber nicht jeder mit jedem reden muss. Diese Parallelisierung der Kommunikation spart enorm viel Zeit. Es wird parallel ausgesiebt und sortiert, sodass sich nicht die ganze Gruppe mit jeder Einzelmeinung beschäftigen muss. Durch diese Verdichtung setzen sich die Dinge durch, die besondere Kraft haben oder die besonders interessant sind.

Und welche Methode könnte man anwenden, um das Problem in den Griff zu bekommen?

Zum Beispiel „1 - 2 - 4 - All", das ist die einfachste Struktur. Das heißt, man denkt erst einmal alleine nach, dann zu zweit, dann zu viert und schließlich in der ganzen Gruppe.

Es beginnt damit, dass sich jeder im Raum zu einer bestimmten Fragestellung eine Minute lang alleine Gedanken macht. Das hat den Vorteil, dass introvertierte Menschen nicht von anderen, die lauter und dominanter sind, „überredet" werden können. Extrovertierte Menschen hingegen können ihren ungehemmten Gedankenschwall kanalisieren und sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Der nächste Schritt ist dann, dass man zu zweit zwei Minuten spricht. Wenn introvertierte Menschen vor einer großen Gruppe sprechen sollen, ist das für sie oft sehr unangenehm - mit der Folge, dass Ideen zurückgehalten werden. Aber mit einer Person ins Gespräch zu kommen, gelingt so gut wie allen. Wenn sich dabei eine Idee schon mal als ganz spannend erweist, kann sie sich danach in der Viererkonstellation - jedes Paar sucht sich ein anderes Paar, die dann miteinander vier Minuten sprechen - weiterverbreiten. In der großen Gruppe schließlich werden dann die besten Impulse aus den Vierergruppen abgeschöpft.

Noch mal zur Einordnung. Ich habe mich dabei ertappt, dass ich in zwei Fragen den Begriff „Methode" verwendet habe. Handelt es sich um Methoden?

Die Macher - Keith McCandless und Henri Lipmanowicz - verwenden den Begriff „Mikrostruktur". Das ist ein strukturgebendes Verfahren, das im Kleinen die Interaktion regelt - im Gegensatz zu Makrostrukturen wie Prozessen oder Hierarchien. Ich persönlich würde behaupten, dass man schon von Methoden sprechen kann, aber vielleicht wissen Sie mehr als ich über den Begriff.

Nicht unbedingt. Ich beobachte nur, dass Methoden oftmals kritisch gesehen werden, gerade wenn es um die Veränderung von Formen der Interaktion geht. Manche Leute gehen auf Distanz, wenn von „Methode" die Rede ist. Der Begriff Mikrostruktur trifft da vielleicht auf mehr Sympathie.

Eine interessante Beobachtung. Weil das für viele Leute einen Beigeschmack von Überkontrolle hat? Oder in welche Richtung geht das?

Ich denke, das hat schon mit Kontrolle zu tun. Oder mit Machtausübung. Methoden werden angewendet, werden also Menschen übergestülpt. Meist wird eine Methode gewählt, ohne dass die Leute mitentscheiden können, welche. Ist das bei Liberating Structures anders? Oder trifft da auch ein Moderator oder Facilitator die Entscheidung?

Ganz frei sind Liberating Structures davon natürlich nicht. Aber da sind zwei Dinge, die ich ganz sympathisch finde. Erstens hält der Facilitator wirklich nur den Rahmen für die Gruppe. Er nimmt keinerlei inhaltlichen Einfluss, sondern strukturiert die Interaktion so, dass die Gruppe für sich selber Ergebnisse generieren kann. Aber natürlich hat er allein dadurch, dass er überlegt, was er einsetzt, eine große Macht.

Zweitens sind die meisten Instrumente so leicht zu erlernen, dass jeder sie anwenden kann. Die Traumvorstellung ist, dass jeder in der Gruppe sich damit auskennt. Und die Gruppe für sich entscheidet, welche Struktur gewählt wird. Das muss eben nicht ein langjährig geschulter Moderator tun, sondern jeder in der Gruppe kann das.

Und die Liberating Structures lassen sich wirklich leicht erlernen? Ich stelle mir das gar nicht so einfach vor: einen Werkzeugkasten mit 33 Instrumenten zu haben und jeweils zu entscheiden, welches davon in welcher Situation das passende ist …

Das ist auch nicht leicht. Gerade wenn man einen eintägigen oder mehrtägigen Workshop vor sich hat, muss man natürlich wissen, was man anwendet. Benutze ich etwas, was den Ideenraum aufspannt, und schließe den dann hinterher wieder? Will man es richtig gut machen, dann sollte man so etwas wissen.

Andererseits ist es erstaunlich zu sehen, wie viele Leute Liberating Structures in der Praxis mal eben so und mit gutem Erfolg einsetzen. Wir beobachten sehr oft, wie Leute, die in unser Meet-up kommen, dann im nächsten Meeting einfach mal vorschlagen, eine Methode auszuprobieren - und richtig gute Ergebnisse haben. Das ist schon überraschend. Für eine tiefere Transformation muss man sicher mehr Erfahrungen sammeln. Aber man kann sehr leicht erste Erfolge erzielen.

Haben Sie ein Beispiel für so ein Erfolgserlebnis?

Viele meiner Kollegen sind Entwickler. Sie haben keinerlei Vorerfahrung mit der Moderation von Gruppen. Einer war bei einer Großgruppenretrospektive mit 50 Leuten. Da gab es einen Moderator, aber das funktionierte nicht gut. Mein Kollege hat dann in der Pause gesagt: „Ich habe einen Vorschlag: Wollen wir nicht mal dieses ‚1 - 2 - 4 - All’ anwenden?" Das haben die gemacht - und alle waren total begeistert. Das ist etwas ganz Kleines, Leichtes.

Oder ein anderes Beispiel: In einem Meet-up haben wir die Liberating Structure „Critical Uncertainties" gemacht, bei der es in gewisser Weise um Szenario-Strategieplanung geht. Einer der Teilnehmer fand das total interessant und hat beschlossen, das gleich am nächsten Tag mit seinem Team anzuwenden - für ihn war das dann das beste Meeting, das er jemals hatte. Wie gesagt, hatte er einmal in unserem Meet-up gesehen, wie das funktioniert, konnte es direkt anwenden und erzielte dann auch gleich gute Ergebnisse damit.

Das sind kleine Sachen, kleine Erfolge. Nicht in dem Sinne, dass plötzlich die ganze Organisation anders arbeitet. Sondern dass Leute, die eine Struktur vorher noch nie angewendet haben, tatsächlich in der Lage sind, sie selbständig in einem kleineren Rahmen umzusetzen. Und die dann von anderen gespiegelt bekommen, dass das hilfreich war und die Gruppe wirklich weitergebracht hat.

Das ist ein interessanter Punkt. Also ist der Zugang eher ein Mikrozugang? In dem Sinne, dass man über eine Struktur einsteigt. Während meine Frage ja suggerierte: Da ist ein ganzer Werkzeugkasten mit 33 Werkzeugen drin - das kann ich mir nicht annähernd merken, geschweige denn anwenden. Über den Mikrozugang über eine einzelne Methode erschließt sich dieses Set vielleicht eher.

Genau. Wir sehen oft, dass sich Leute ein bisschen in ein Instrument verlieben. Dieses Tool trifft einen Nerv bei ihnen; sie wissen sofort, wie sie es einsetzen können; sie probieren es aus, haben gute Ergebnisse damit und sagen sich: „Oh, wenn das schon gut funktioniert, dann gucke ich mir auch die anderen Sachen an." Das erweitert sich dann nach und nach. Eher selten liest jemand das Buch von vorn bis hinten durch, schaut sich das ganze Menü an, um dann etwa die Nummer fünf auszuwählen. Das passiert ganz selten. Meistens ist es dieser Mikrozugang, über den die Leute Zugang zu den Liberating Structures finden.

Sie haben mehrfach schon von „Mikrostruktur" gesprochen. Was heißt denn nun genau „Mikro" im Zusammenhang mit Liberating Structures?

Es meint vor allem, dass diese Instrumente im kleinen Rahmen - im Grunde bei einer Interaktion von zwei Menschen schon - einsetzbar sind und keinen großen Aufwand benötigen. Deutlicher wird das im Vergleich zu den Makrostrukturen, die in den Organisationen dominieren: diesen größeren Prozessen, die allesamt ein bisschen schwerfällig sind und sich nur schwer ändern lassen. Im Gegensatz dazu ermöglichen Mikrostrukturen schnelle, flexible Anpassungen. Man kann auch mal spontan sagen - zum Beispiel, wenn man in einem unproduktiven Meeting steckt: „Ich habe eine Methode, die sich total leicht anwenden lässt. Lasst uns das doch kurz ausprobieren. Wenn es uns nicht weiterbringt, probieren wir was anderes." Da sind die Einstiegshürde und der Widerstand geringer, als wenn man sagt: „Ich würde gerne mal grundsätzlich mit euch darüber reden, wie wir hier Meetings gestalten."

Mikro heißt auch, dass eine Struktur - gerade in Abgrenzung zu den Makrostrukturen - nicht größer sein soll als notwendig?

Ganz genau. Immer so viel wie nötig, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Das ist ähnlich wie bei der Machtverteilung: Zu wenig ist nicht gut, zu viel aber behindert. Für Liberating Structures braucht man selten irgendwelche Materialien; man muss nicht großartig Überzeugungsarbeit leisten; es können prinzipiell mehrere Leute in der Gruppe die Führung übernehmen, weil sie nicht so schwer anzuwenden sind. Wenn dieses Wissen in Gruppen vorhanden ist, können diese sich selber die Struktur geben, die für den Moment passt. Damit können sich Gruppen einfach leichter organisieren.

Sie haben gesagt, Liberating Structures haben ihren Ursprung in der Komplexitätstheorie? Ich meine vorhin herausgehört zu haben, dass Emergenz eine wichtige Rolle spielt?

Es gibt zehn Prinzipien hinter den Liberating Structures, die sehr von der Komplexitätstheorie geprägt sind. Anders gesagt: Liberating Structures bringen Konzepte aus der Komplexitätstheorie in die Interaktion und machen sie so sehr leicht erfahrbar. Der Ansatz dahinter ist, dass kleine Veränderungen im Alltag große Effekte erzielen. Zwei Dinge sind dabei wichtig: Das eine ist, wie die Interaktion strukturiert wird, um das möglich zu machen. Das andere ist, worauf geschaut wird.

Zum Beispiel?

Bei „15% Solutions" zum Beispiel geht es nur darum, was jemand persönlich für einen kleinen Beitrag leisten kann, um eine Veränderung zu bewirken; also nicht 100 Prozent, sondern nur 15 Prozent. Das Prinzip dahinter heißt: "Durch das Verschieben kleiner Sandkörner kann man eine ganze Lawine auslösen." Das setzt auf die kleine, persönliche Initiative, nicht den großen Plan.

„Critical Uncertainties" zielt nicht darauf, eine Strategieplanung zu machen, sondern will verschiedene Zukünfte, also verschiedene Zukunftsszenarien aufzeigen, zwischen denen man sich bewegen kann, um flexibel zu bleiben. Hier geht es darum, worauf die Gruppe schaut.

„Ecocycle-Planning" beschreibt den Zyklus, durch den Ökosysteme gehen, und wendet diese Sichtweise auch auf Produkte an. Dabei geht es nicht nur darum, wie die Leute interagieren, sondern auch, was das Thema der Interaktion ist.

Bei „Panarchy" geht es darum, verschiedene Systeme, die ineinander verschachtelt sind, aufzuspreizen. Zum Beispiel, indem man sich in der Organisation nicht nur auf die Teamebene konzentriert. Sondern auch wahrnimmt, dass hier Individuen beteiligt sind, und dass darüber Abteilungen stehen und eine ganze Organisationsstruktur sich entfaltet. Wenn man eine Veränderung angehen möchte, hat es also wenig Sinn, nur auf einer dieser Ebenen anzusetzen. Sondern man hat es mit einem in sich verschachtelten, komplexen System zu tun. Und hier kann man mit kleinen Interventionen auf verschiedenen Ebenen große Effekte erzielen.

Mir stellt sich immer noch - oder erneut - die Frage, was Liberating Structures nun eigentlich sind.

Sicher nicht nur diese niedergeschriebenen 33 Strukturen. Das ist nur ein Ausdruck von dem, was Liberating Structures eigentlich beinhalten: ganz viel Kreativität, ganz viel Spontanität, ganz viel Emergenz. Ganz viel Reagieren auf das, was die Gruppe gerade braucht. Das erfordert oft, die eigenen Regeln zu brechen, wenn die Situation es erfordert.

Es ist ein bisschen der Anspruch, die Welt dadurch zu verändern, indem im Kleinen verändert wird, wie Menschen miteinander umgehen. Und damit große Veränderungen hervorzurufen. Das geht deutlich über ein Buch mit 33 Strukturen hinaus.

Dieses Interview veröffentlichen wir in enger Kooperation mit der Online-Plattform changeX.


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Bildquelle: johannes.schartau.eu

Autor: Winfried Kretschmer (Gastautor)

Veröffentlicht am: 28.06.2018


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