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Themensammlung - Meetingarchitektur

Das „Wir“ braucht Probierräume

Effektive Zusammenarbeit durch eine bereichernde Gemeinschaft

Wenn wir von großen Egos reden, denken viele von uns direkt an die Weltpolitik. Allerdings: Nicht nur im pompösen Politikgebaren, auch bei Veranstaltungen, in der Zusammenarbeit in Agenturen und sogar im Zusammenleben entsteht täglich ein Balanceakt zwischen dem „Ich“ und dem „Wir“. Was passiert, wenn das Ego hinter der Gruppe zurücksteht? Können Individuum und Gruppe ihre Potenziale dann besser entfalten? Anders gefragt: Wie können wir die Potenziale jedes Individuums so entfalten, dass sie die Gemeinschaft stärken?

„Dazu benötigen wir Probierräume“, sagt Tina Gadow, Facilitator, Prozessberaterin und Kuratorin des micelab:bodensee: „In Agenturen, in Unternehmen, im täglichen Tun müssen wir Rahmen setzen, innerhalb derer wir die vorhandene Diversität – das gesamte „Wir“ – nutzen. Weil wir den Nutzen der Gemeinschaft für ein besseres Ergebnis erkennen.“

Es geht nicht um Regeln, die einschränken, betont sie. Im Gegenteil, es geht um einen Rahmen, der Freiraum gibt. Durch den Gartenzaun entsteht freier Auslauf für den Hund – sonst müsste er im Haus bleiben. Im Idealfall bringt jeder Einzelne seine Kompetenzen in die Gruppe ein, leitet einen Workshop, moderiert ein Thema, hat eine Idee und vertritt sie. Die Gruppe fördert ihn wiederum, genau das zu tun. Indem sie ihm Sicherheit gibt, den Schutzraum einer starken Gemeinschaft. Daraus entsteht ein Mehrwert für beide Seiten.

Raum geben – Raum nehmen

Was für diesen Schutzraum erforderlich ist, untersuchten vierzig Expertinnen und Experten des Netzwerks micelab:bodensee bereits im Oktober letzten Jahres. Per Kopfstandmethode wiesen sie nach, wie aus Einzelnen eine temporäre Gemeinschaft werden kann. Dazu schlugen sie zunächst jene Zutaten vor, die den gegenteiligen Effekt erzielen: Hierarchien einziehen, Augenhöhe verlassen, anderen Raum nehmen. Stellten sie das wieder auf den Kopf, erkannten sie: Für bereichernde Begegnungen braucht es Settings, die diese Dinge unterbinden und Vertrauen schaffen.

Tina Gadow geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet: „Je klarer der Ablauf und strenger der Rahmen, desto freier kann das Dazwischen gestaltet werden, desto kreativer sind die Ergebnisse.“

Widerspricht das nicht völlig unserem Bild der Kreativszene, der kreativen Chaoten?

Die „kreativen Chaoten“ sind zumeist Einzelgänger und ja, der Einzelne kann im Chaos extrem kreativ sein. Das flüchtige „Wir“ dagegen benötigt einen Rahmen, damit es entstehen kann. Bekommt es von der Gemeinschaft keinen sicheren Halt, wird es zerfließen. Die Zugehörigkeit als oberster Wert beflügelt, eröffnet Potenzial, die Sicherheit der Gemeinschaft bringt den Einzelnen zum Strahlen. Wenn wir es schaffen, den Wert von Kooperationen zu erkennen, werden wir stärker. Sehen wir das Recht des Stärkeren, das Individuum, führt uns das zu Ausgrenzung, zu Aggression. Auch das konnten die micelab-Experten am eigenen Leib erfahren.

„Oftmals prescht einer mit einer Idee vor und hängt die anderen ab“, erklärt Tina. Autorität durch Lautstärke und Präsenz – einer schreit, die anderen folgen. Das erzeugt Frust. Die Herausforderung für den Einzelnen zum Besten der Gruppe ist es damit zum einen, zu erkennen, wo er sich zurücknehmen muss. Zum anderen gilt es, die eigene Autorität und das eigene Reflexionsvermögen aufrecht zu erhalten, um nicht zum Wohle des „Wir“ unreflektiert dem Lautesten und Schnellsten zu folgen.

Gibt man dem „Wir“ einen geschützten Rahmen, in dem es wachsen kann, beugt man dieser Gefahr vor, entkommt typischen systemischen Rollen und Hierarchien. „Die Funktion wird am besten an der Tür abgestreift, wie ein Paar Schuhe“. Wenn dafür gesorgt wird, dass jeder Zeit zum Denken und Sprechen hat, dann entsteht Raum für kluge Entscheidungen. Das ist nicht einfach und oftmals neu. Denn, wenn wir ehrlich sind, kennen wir es anders. Im täglichen Business hat die Führungskraft die großen Ideen, die Mitarbeiter haben die kleinen. Klar, alle dürfen mal was sagen. Und dann sagt der Chef was (oder der Lauteste) und die anderen Ideen sind tot. Oft übernimmt das größte Ego den Prozess. Und alle lehnen sich zurück, aus Gewohnheit, aus Unsicherheit, Resignation oder Erleichterung, nicht in Zugzwang zu geraten.

„Das micelab hat uns gezeigt, wie schnell die Pferde durchgehen und wie überzeugend Lautstärke als Begeisterungsfähigkeit umgemünzt wird“, sagt Tina. „Super, genau das ist es, yow Leute, wir ham‘s. Das ist die Lösung!“ Alle sind ruhig – wer will da widersprechen? Da haben wieder die üblichen Verdächtigen das Thema unter sich ausgemacht. Eigentlich hätte vielleicht der oder die Fünfte in der Rederunde die richtige Idee gehabt, aber dazu kommt es nicht mehr, weil das Ego den Prozess geentert hat.

Gleiches (Rede-)Recht für alle

Setzen wir dem „Wir“ einen Rahmen, in dem alle das gleiche Rederecht haben und nutzen müssen, kommen wir raus aus dieser Ego-Nummer. Ein Rahmen beruhigt das Vorgehen enorm und schafft eine völlig andere Ausgangssituation. Jeder weiß, dass er zu Wort kommt und gehört wird. Jeder kann sich auf das Gesagte konzentrieren, weil man nicht auf das Luftholen des Anderen lauern muss, um Gehör zu finden. Die Methode 6-1-1-1 ist eine solche gemeinschaftsbildende Maßnahme. Setting: Vier Personen, eine spricht sechs Minuten lang über ein ausgewähltes Thema, hat den Raum, um ungestört laut denken zu können – Pausen eingeschlossen – die anderen hören zu. Danach geben die anderen nacheinander je eine Minute lang positives Feedback. Auch die kollegiale Fallberatung stärkt das „Wir“, die leisen Stimmen und Langsamkeit.

Langsamkeit? Oh mein Gott, das geht aber gar nicht in unserer schnelllebigen Branche? Tina Gadow sagt: „Und wer bitte will behaupten, dass die Lauten und Schnellen die besten Lösungen haben? Ich nicht. In Formaten wie 6-1-1-1 kommt es schon mal vor, dass wir alle eine Minute schweigen, weil jemand seine Worte zurechtlegen muss. Und ich empfinde dieses Schweigen als sehr erholsam.“ Man kennt das: Manchmal merkt man fast körperlich, wenn der Geist wieder im Körper ankommt, nachdem er sich irgendwo im hektischen Geschehen verirrt hatte.

Erst durch diese Langsamkeit können wir etwas Wertvolles tun: Hinhorchen auf das, was im Prozess gerade nötig ist. Und uns dem Rahmen anvertrauen. Das bedeutet dann, dass die Extrovertierten nicht schreien, die Introvertierten nicht zurückzucken, wenn sie sprechen sollen. Wir alle können und müssen den Raum ergreifen, in dem sicher gesprochen werden kann, können (uns) auf diese Weise in die Gemeinsamkeit führen – und führen lassen.

Gemeinsames Tun schafft Gemeinsamkeit

Diskrepanzen lassen sich über Gemeinsamkeiten überwinden. Das schreibt sich so leicht, aber es steckt ganz viel dahinter. Durch die Zugehörigkeit zum „Wir“ wird das „Ich“ gestärkt und damit bekommt die Gemeinschaft einen festeren Halt. Wir-Räume bauen sich ihr Fundament also peu-à-peu selbst.

Gemeinsame Anknüpfungspunkte sind essenziell und je enger unser „Wir“ wird, desto besser werden unsere Ergebnisse. Diese Erkenntnis holen wir uns nicht nur aus täglichen Erfahrungen, sondern auch aus den Neurowissenschaften. Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer hat es den Teilnehmern des micelab erklärt: Forscher stellten fest, dass beim Nachdenken über nahestehende Personen die gleichen Neuronen aktiviert werden wie beim Nachdenken über sich selbst. Dann ist das „Ich“ tatsächlich zum „Wir“ geworden. Ein Beispiel dafür findet sich im gemeinsamen Erleben von frustrierenden Situationen. Stehe ich mit einer Gruppe von Menschen gemeinsam in der Schlange am Fahrkartenschalter und wir unterhalten uns (oder lästern gemeinsam über die Bahn), entsteht ein „Wir“, das den Stress erträglich macht. Stehe ich allein im Stau, stresst mich der Frust, den ich hier als Einzelner in einer Gruppe fühle. Gemeinsames Tun – am besten synchron – ist ein Gemeinschaftsbooster, denken Sie an Fußballstadien oder Tänze.

Wie gewinne ich Egos für das Wir?

„Firlefanz, dafür habe ich keine Zeit? Mögen meine Mitarbeiter sich gerne an den Händen fassen und synchron schwingen, ich bin ja doch der, der falsche Entscheidungen wieder ausbaden muss“, mag sich jetzt mancher denken, der glaubt, als Entscheider außerhalb jedes „Wir“ zu stehen. Warum gibt es bei uns (Gesellschaft oder Branche) so viele Egos, die meinen, alles alleine entscheiden zu müssen? Im Beitrag von changeX wird es sehr schön dargestellt:

„…Aus einem autoritären Führungsstil (…) entsteht schnell ein Glaubenssatz, dem alle folgen. Der Chef, seine Führungskräfte und die Mitarbeiter - sie alle gehen davon aus, dass der Chef alle Fäden in der Hand halten muss, weil die Mitarbeiter nicht mitdenken und nicht selbstständig arbeiten. Ein solcher Glaubenssatz führt dann dazu, dass sich diese Rollen stetig weiter verstärken: Der Chef macht die Ansage und die Mannschaft führt aus. Daran kann man sich gewöhnen …“

Und die Lösung? Liefert der gleiche Beitrag:

„…Würde man die Aufgaben auf mehrere Schultern verteilen, würde dies definitiv eine Entlastung bringen. Wichtigste Voraussetzung für einen Wandel ist demzufolge das Grundvertrauen des Chefs in die Fähigkeiten und den Leistungswillen aller Mitarbeiter. Nur wenn Chef und Führungskräfte ihrer Belegschaft genau dieses Vertrauen entgegenbringen, werden die Mitarbeiter agil und selbstorganisiert tätig sein (können). In einem solchen Unternehmen herrschen dann nicht Misstrauen und Kontrolle. Sondern ein Klima und eine Kultur, in der Menschen in der Lage sind, sich selbst zu führen und unter den richtigen Umständen selbst Verantwortung zu übernehmen.“

Die Voraussetzung für diese Veränderung: Vertrauen und die Einsicht, dass auch eine Lösung, die man selbst so nicht getroffen hätte, perfekt sein kann. Und Menschen, die Lust am „Wir“ haben. Die finden sich in den Unternehmen, in den Agenturen und in unserer Gesellschaft nicht auf Anhieb. Viele von uns sind – siehe oben – an die Rolle des Ausführenden gewöhnt und haben sich bequem in ihr eingefunden.

Eine Lösung könnte ein Wisdom Council sein – ein Losverfahren, das Individuen zu einer heterogenen Gruppe zusammenführt. Wir könnten in den Agenturen nachmachen, was uns die demokratische Welt gerade vormacht: Immer mehr Bürgerräte oder -foren entstehen, in denen Menschen durch Losverfahren Verantwortung übernehmen. Hier treffen verschiedenste Menschen aufeinander, die sich sonst nie getroffen hätten und müssen gemeinsam Probleme lösen. Länder wie Kanada oder Island nutzen Wisdom Councils sogar auf Regierungsebene und Studien bestätigen, dass in den zusammengelosten Gruppen ein starkes „Wir“ kluge Entscheidungen bewirkt: In den zufällig zusammengesetzten Gemeinschaften lässt sich ein hohes Engagement und eine erstaunliche Entscheidungskompetenz festmachen. Was ja dann, um zur Anfangsthese zurückzukehren, ein schöner Ansatz wäre, um der aktuellen Föhnfrisur-Politik einen Gegenentwurf zu bieten, oder?


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Bildquelle: Anja Köhler

Autor: Andrea Goffart

Veröffentlicht am: 04.04.2019


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