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EventTech

Verlauf exponentiell, Wirkung disruptiv (Teil 1)

Ein Gespräch mit Kurt Matzler über Digitalisierung und digitale Disruption

Digitalisierung wird oft zu eng verstanden. Als ginge es nur darum, Dinge in Nullen und Einsen zu verwandeln. Digitalisierung aber ist mehr: ein neuer Technisierungsschub auf breiter Front. Entscheidend dabei ist die Kombinatorik der Innovation, sagt ein führender Innovationsforscher: Es werden immer mehr unterschiedliche digitale Technologien miteinander kombiniert. Das führt zu einer Explosion von neuen technischen Möglichkeiten und Geschäftsmodellen. Der Verlauf: exponentiell. Die Wirkung: disruptiv.

Was muss man wissen, um die digitale Transformation zu verstehen? Die Einstiegsfrage auch in diesem Interview. Dieses Mal führt sie zum Kern der Zerstörung des Alten: Disruption.

Kurt Matzler ist Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Bozen. Er ist Co-Autor der deutschsprachigen Ausgabe des Buches The Innovator’s Dilemma mit Clayton M. Christensen, Professor an der Harvard Business School, und Co-Autor des Buches Digital Disruption.

Herr Matzler, was muss man wissen, um die digitale Transformation zu verstehen?

Kurt Matzler: Zwei Dinge sind wichtig. Erstens: Wie wirkt die digitale Transformation auf Unternehmen ein? Hier gibt es drei Einflussbereiche: Digitalisierung von Produkten und Dienstleistungen, Digitalisierung von Prozessen und Entscheidungen, Digitalisierung von gesamten Geschäftsmodellen. Zweitens: Was die meisten unterschätzen, das ist die Geschwindigkeit, die exponentielle Entwicklung. Das sind die beiden ganz zentralen Dinge, die man wissen sollte.

Wenn man versucht, es noch weiter zuzuspitzen: Was ist das Wesen des Digitalen?

Kurt Matzler: Viele physische Produkte werden zu digitalen Produkten: Informationsgüter, Bücher, Musik und so weiter. Denken Sie an das Smartphone: Wenn wir all die Produkte, die wir heute auf dem Smartphone haben, im Jahr 1990 gekauft hätten, hätten wir circa eine Million ausgegeben.

Das zweite zentrale Wesensmerkmal der Digitalisierung ist Automatisierung: Viele Dinge, die Mensch erledigt haben, werden von Systemen, von Robotern, von künstlicher Intelligenz übernommen.

Manche bezweifeln die Aussagekraft des Begriffs Digitalisierung. Und plädieren dafür, man solle allgemeiner von einer Technisierung sprechen. Was meinen Sie?

Kurt Matzler: Welchen Begriff man verwendet, ist eher sekundär. Wichtig ist, dass man die Auswirkungen erkennt, und dass wir alle das Gleiche darunter verstehen. Digitalisierung wird oft zu eng verstanden, nämlich Dinge in Nullen und Einsen zu verwandeln. Aber Digitalisierung ist wesentlich mehr. Deswegen habe ich nichts dagegen, wenn man hier von Technisierung spricht.

Digitalisierung ist ein komplexes Phänomen. Weil sie in der Anwendung dieses digitalen Modus der Informationsverarbeitung und -speicherung in einer Vielzahl von Technologien besteht. Ist Komplexität ebenfalls ein Kennzeichen von Digitalisierung?

Kurt Matzler: Komplexität ist eines der ganz großen Themen, die auf Unternehmen zukommen. Früher hat es gereicht, die eigene Branche sowie die Technologie und die Konkurrenten dort zu kennen. In Zukunft reicht das nicht mehr. Ich spreche hier von "Kombinatorik der Innovation": Es werden immer mehr unterschiedliche digitale Technologien miteinander kombiniert. Das führt zu einer Explosion von neuen Möglichkeiten und Geschäftsmodellen. Da sind viele Unternehmen schlicht überfordert. Vor fünf Jahren beispielsweise hat kein Energieversorgungsunternehmen geglaubt, dass es mit Google zu tun bekommen würde, ebenso wenig hatten Automobilhersteller damit gerechnet, dass Apple und Google mögliche Konkurrenten bei der Digitalisierung des Autos werden. Komplexität ist ein Riesenthema.

Wenn Sie von Kombinatorik sprechen, steckt darin ein anderes Verständnis von Innovation? Innovation nicht als Neuschöpfung, sondern als Kombination von vorhandenen Ideen?

Kurt Matzler: Etwa 90 Prozent aller neuen Geschäftsmodelle entstehen durch nichts anderes als durch ein Imitieren oder Übertragen von Geschäftsmodellen aus anderen Branchen. Viel von dem, was wir als Geschäftsmodellinnovation bezeichnen, existiert schon irgendwo in anderen Branchen.

Sie begreifen Digitalisierung als fundamentalen und tief greifenden Umbruch. Wie tief geht der im Vergleich zu anderen Brüchen in der Menschheitsgeschichte?

Kurt Matzler: Es sind - und das ist auch ein Merkmal der Digitalisierung - alle Lebensbereiche davon betroffen: die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Art und Weise, wie wir leben, kommunizieren, konsumieren. Digitalisierung ist ein Querschnittsphänomen, das alle Bereiche beeinflusst. Und damit ist es natürlich extrem tief greifend. In Kombination mit der Geschwindigkeit macht das diesen großen Wandel aus.

Das ist der exponentielle Charakter dieser Entwicklung …

Kurt Matzler: Seit Beginn des Computerzeitalters beobachten wir diese exponentiellen Entwicklungen. So wird das mooresche Gesetz, nach dem sich die Anzahl der Transistoren auf einem Chip alle 18 Monate verdoppelt, noch ein paar Jahre weiter gelten. Und wenn wir dann an physikalische Grenzen stoßen, können wir fast sicher sein, dass die nächsten Technologien bereitstehen, die diese Entwicklung fortsetzen, beispielsweise der Quantencomputer. Die meisten digitalen Technologien sind charakterisiert durch diese exponentielle Geschwindigkeit. Das Internet der Dinge verbreitet sich mit exponentieller Geschwindigkeit, die damit direkt verbundenen Big Data wachsen mit exponentieller Geschwindigkeit, Robotik und künstliche Intelligenz entwickeln sich sehr, sehr schnell … Das Problem ist, dass unser Gehirn nicht dazu gemacht ist, diese Geschwindigkeiten zu erfassen. Wir unterschätzen sie regelmäßig.

Grundsätzlich? Wir sind geistig-kognitiv nicht in der Lage, eine exponentielle Entwicklung richtig einzuschätzen?

Kurt Matzler: So ist es.

Diese beiden Punkte, die exponentielle Entwicklung und die Kombinatorik der Innovation sind zwei zentrale Muster digitaler Transformation. Was kommt hinzu?

Kurt Matzler: Dinge, die vollkommen digitalisiert sind, bewegen sich in Richtung Gratisökonomie. Weil vollkommene Digitalisierung von Produkten und Dienstleistungen bedeutet, dass die Grenzkosten nahe null gehen. Und das führt zu sehr, sehr niedrigen Preisen. Unternehmen, die vollkommen digitalisieren, müssen sich darauf einstellen. Das bedeutet: Sie brauchen neue Ertragslogiken. Beispiel Musikindustrie.

Der zweite Punkt: Wenn wir heute Wirtschaftsleistung messen, dann erfassen wir einen Bereich überhaupt nicht, wo zwar Wohlstand geschaffen wird, sich dies aber nicht monetär ausdrückt: Das ist die digitale Wirtschaft. Früher haben wir für Enzyklopädien viel Geld ausgegeben, heute haben wir Wikipedia gratis. Wir haben viel für Zeitungen ausgegeben, heute haben wir massenhaft Informationen gratis. Nicht anders ist es bei der Fotografie.

Hinzu kommt: Die Transaktionskosten sinken?

Kurt Matzler: Genau. Transaktionskosten sind alle Kosten für die Anbahnung und Abwicklung von Geschäften. Durch die Digitalisierung, durch das Internet, sinken diese Kosten, weil zunehmende Transparenz herrscht und es immer leichter wird, mit Partnern zusammenzuarbeiten. Wir haben niedrigere Kosten der gesamten Geschäftsabwicklung - und das heißt, dass wir neue Geschäftsmodelle sehen werden.

Warum?

Kurt Matzler: Fallen diese Transaktionskosten, beispielsweise Koordinationskosten mit Lieferanten, Qualitätssicherungskosten, Suchkosten und so weiter, wird es zunehmend attraktiver, das Unternehmen als Netzwerk zu koordinieren. Beispiel FlixBus: ein Monopolist, 2011 gegründet, 30 Millionen Fahrgäste. FlixBus aber hat nicht einen einzigen eigenen Bus oder Busfahrer, dafür ein Netzwerk von etwa 250 mittelständischen Unternehmen, die diese Leistung erbringen.

… die Beispiele ließen sich fortsetzen: Uber hat kein einziges Taxi, Airbnb kein einziges Hotel …

Kurt Matzler: … und WhatsApp hat keine eigene Telefoninfrastruktur. Das ließe sich beliebig fortsetzen. Sinkende Transaktionskosten führen dazu, dass wir mehr und mehr Plattformökonomien haben werden.

Verändert sich auch die Art und Weise, wie sich Erlöse verteilen? Als Chris Anderson seine Long-Tail-Theorie in die Welt setzte, wurde das vielfach so verstanden, dass man auch am flachen Ende des Long Tail gute Geschäfte machen kann. Wie man mittlerweile sieht, kann man dort zwar Geschäfte machen, aber die Gewinne konzentrieren sich an der Spitze der Kurve.

Kurt Matzler: Es gibt eine klare Tendenz zur Konzentration, vor allem bei diesen Plattformunternehmen. Ein Grund dafür sind die Netzwerkeffekte. Ein Plattformunternehmen ist für Kunden umso attraktiver, je mehr Kunden es bereits hat. Beispiel WhatsApp, Facebook, Booking.com und so weiter. Der zweite Sieger kann schon der erste Verlierer sein.

Damit entsteht eine besondere Art von Monopolen. Die klassische Monopoltheorie besagt, dass bei Monopolen der Geschädigte der Kunde ist. Das aber ist hier nicht der Fall. Der Kunde ist nicht der Geschädigte, sondern er hat den größten Nutzen davon. Ausgepresst werden die Zulieferer. Diese Monopole schieben sich zwischen Kunden und Industrie: dorthin, wo alle Informationen zusammenfließen. Sie haben die Daten. Und sie haben die Macht. Denn sie schneiden die Kommunikation zwischen Zulieferer und Kunden ab.

Ist es auch ein Kennzeichen von digitaler Transformation, dass sich Geschäftsmodelle erst im Verlauf der Entwicklung des Geschäfts herauskristallisieren?

Kurt Matzler: Daten sind das Gold der Zukunft. Mit der Digitalisierung, auch mit der Industrie 4.0, mit dem Internet der Dinge erleben wir eine Explosion von Daten. Es gibt drei Entwicklungsschritte: Mit diesen Daten kann man Entwicklungen in Echtzeit beobachten. Man beginnt, die dahinterliegenden Muster zu erkennen. Und wenn man die Muster versteht, kann man Prognosen entwickeln und Empfehlungen abgeben. Und damit entstehen viele neue Geschäftsmodelle. Predictive Maintenance ist in der Industrie bereits ein großes Thema: durch die Verarbeitung großer Mengen von Daten vorauszusagen, wann ein bestimmtes Teil in einer Maschine bricht. Und so vorbeugende Instandhaltung zu ermöglichen.

Mit der Möglichkeit, Prognosen zu erstellen, erschließen sich neue Anwendungen, die sich in neuen Geschäftsmodellen nutzen lassen?

Kurt Matzler: Wichtig ist das für Unternehmen im Kontext von Industrie 4.0. Industrie 4.0 ist zwar sehr, sehr wichtig, greift aber zu kurz. Industrie 4.0 wird in der Regel mit Effizienz verbunden, ermöglicht durch die Daten aber auch völlig neue Geschäftsmodelle. Etwa mit den generierten Daten einen Mehrwert für Kunden zu schaffen, weitere Möglichkeiten der Effizienzsteigerung zu erschließen, Entscheidungen zu algorithmisieren und so weiter.

Industrie 4.0 wird stark auf die Steuerung von Produktionsprozessen bezogen. Das ist zu eng?

Kurt Matzler: Das ist zu eng. Es ist zwar wichtig, aber zu eng. Wir müssen viel weiter denken: Wie können wir über Industrie 4.0 neue Geschäftsmodelle entwickeln? Das ist für Unternehmen ein wichtiger Punkt, aber vor allem für die Gesellschaft. Aus einem ganz einfachen Grund: Industrie 4.0 führt, so schätzt man, über Branchen hinweg zu Effizienzsteigerungen von 30 Prozent. Durch diese Effizienzsteigerungen werden wir natürlich auch weniger Beschäftigung haben. Nur wenn wir neue Geschäftsmodelle finden, können wir dieses Vakuum an Beschäftigung durch neue Jobs auffüllen.

Das war Teil 1 des Gesprächs mit Kurt Matzler über Digitalisierung. Lesen Sie am 27. April in Teil 2 des Interviews mehr über die digitale Disruption.


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Autor: Winfried Kretschmer (Gastautor)

Veröffentlicht am: 06.04.2017


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