Disruptive Thinking. Querdenken ohne Geländer
Zukunftsfähiges Denken fördert eine achtsame Art des Miteinanders
Dr. Bernhard von Mutius ist Sozialwissenschaftler und Philosoph, inspirierender Redner und Führungscoach. Der Zukunftsdenker und Trainer des Jahres 2018 ist im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt für seinen innovativen Ansatz des „Disruptive Thinking“. Er schafft überraschend einfache Lösungen jenseits des Gewohnten, indem er durch neue und leicht umsetzbare Techniken mit der Routine bricht und die Innovationsfähigkeit seiner Teilnehmerinnen und Teilnehmer stärkt. Grund genug, sich heute mit ihm über disruptives Denken in der Zusammenarbeit (nicht nur) der MICE-Branche zu unterhalten.
MICE Club: In einem Satz: Was ist Disruption für Sie?
Bernhard von Mutius: Mehr als Digitalisierung. Disruption ist überraschender. Disruptionen sind tiefgreifende Brüche unserer vertrauten Vorstellungen, unserer industriegesellschaftlich geprägten Modelle und Grundannahmen.
MICE Club: Und was ist „Disruptive Thinking“?
Bernhard von Mutius: Querdenken ohne Geländer. Ich unterscheide die digitale Transformation und die kreative Revolution, die mit ersterer einhergeht. Disruptive Thinking ist die Kunst und Disziplin dieser Revolution. Es ist die Fähigkeit, Brüche und Widersprüche produktiv zu machen. Man könnte auch sagen: Es ist die Fähigkeit, sich nichts vorzumachen, Dinge anders zu machen und den Menschen wieder Mut zu machen. Mit einem Wort: Es stärkt den Innovationsgeist und die Innovationsqualität.
MICE Club: Mit „Disruptive Thinking“ fordern Sie ein völlig neues Denken. Ziel ist es, eine neue Form der Anpassungsfähigkeit zu entwickeln. Arbeitnehmer sind heute immer wieder mit Umwälzungen konfrontiert und genau diese Anpassungsfähigkeit braucht es dann. Bei einem Großteil der Mitarbeiter haben wir es aber mit „Bewahrern“ zu tun. Wie kann ich diese Konditionierung aufbrechen?
Bernhard von Mutius: Zunächst: Das sind unsere Zuschreibungen von außen. Es gibt keine klare Trennungslinie zwischen diesen beiden Gruppen. Die einen haben kein Post-it auf der Stirn: „Ich bin für Veränderung“, die anderen tragen kein Schild in der Hand „Ich bin dagegen“. Das stellt sich erst im Prozess der Veränderung heraus. Natürlich sind viele heute veränderungsmüde. Und manche kommen mit dem zunehmenden Tempo der technologischen Veränderungen nicht mehr mit. Deshalb beobachte ich heute auch in vielen Organisationen das Phänomen der „zwei Geschwindigkeiten“. Damit muss man umgehen lernen.
MICE Club: Und wie?
Bernhard von Mutius: Achtsam. Gekonnt. Verantwortlich. Es kommt auf den Prozess an und vor allem auf die Menschen, die führen, auf die Räume, die geöffnet werden und auf die Hilfen, die denen angeboten werden, die nicht so schnell mitkommen. Das heißt:
- Aktive Teilhabe ermöglichen: Wer selbst aktiv und selbst-organisiert an neuen Themen und innovativen Aufgaben arbeiten kann, verliert die Angst davor.
- Lernen: Wir brauchen lebendige Formate, Lernreisen und Lernökosysteme in und außerhalb unserer Organisationen, in denen unsere Grundannahmen in Frage gestellt werden und wir die Dinge „verrücken“ können.
- Den Einzelnen fragen: Veränderungen in Organisationen, das ist meine Beobachtung, gelingen nur, wenn jeder Einzelne gehört wird und sich individuell einbringen kann. Alle allgemeinen Appelle verpuffen.
- Auf guten Beispielen bauen. Konkrete Beispiele und Geschichten vom Scheitern und vom Gelingen wirken mehr als alle Chartpräsentationen.
MICE Club: Aktive Teilhabe, lebendige Lernformate, gute Beispiele und die Einbeziehung des Einzelnen. Das sind Gestaltungselemente, die auch im MICE-Bereich immer mehr zum Tragen kommen. Ist Disruptive Thinking eine Methode für Eventtreibende?
Bernhard von Mutius: Ja, wenn man es nicht als Zaubertrank versteht, von dem man nur einmal nippen muss, um danach wie verwandelt als Frontfrau oder Frontmann alles rocken zu können. Es braucht schon ein bewusstes Unterbrechen der Routinen. Einmal kurz „Stopp“ sagen und gemeinsam im Team reflektieren und etwas ausprobieren. Zum Beispiel für einen Moment die eigenen Grundannahmen in Frage stellen. Was wäre, wenn wir es morgen anders machen? Und wie können wir uns dabei wechselseitig unterstützen, damit wir nicht sofort wieder zurückfallen in alte Muster?
MICE Club: Kann man eigentlich die Reaktionen der unterschiedlichen Organisationsebenen in Schubladen stecken? Reagiert ein Mitarbeiter anders auf disruptive Prozesse als eine Führungskraft oder ein Vorstandsmitglied?
Bernhard von Mutius: Nein, das glaube ich nicht. Das gehört auch zu den Klischees. Allerhöchstens sind Führungskräfte etwas vertrauter mit den englischen Begriffen, die im globalen Diskurs benutzt werden. Und natürlich sind sie oft gewandter im Umgang mit diversen Tools. Aber auch das ändert sich.
MICE Club: Wie erkennt man in Konzernlenkern die „Wasserprediger – Weintrinker“, die nur disruptiv mit den Wölfen heulen?
Bernhard von Mutius: Man erkennt sie nicht an Äußerlichkeiten. Wer Sneakers trägt, ist noch nicht Avantgarde. Aber wer selbst vorangeht und sich dabei die Zeit nimmt, jeden einzelnen Mitarbeiter zu fragen und sich mit einzubringen, der gehört dazu. Wir müssen die Veränderungen selbst sein, die wir in der Welt sehen wollen. Das wusste schon Gandhi. Und guten Wein trinken, ist in diesen Zeiten gar nicht so verkehrt.
MICE Club: Wie kann ich als Unternehmer bei meinen Mitarbeitern ein neues Denken fördern oder initiieren, um frische Ideen und kreative Lösungen für mein Geschäftsmodell zu befördern?
Bernhard von Mutius: Genau das tun, was sie gesagt haben: Frische, unverbrauchte, unkonventionelle Ideen fördern. Die „Day 1“-Mentalität fördern, wie es Jeff Bezos genannt hat. Loben, was das Zeug hält, wenn jemand unangepasst ist und Grundannahmen in Frage stellt. Freiwillige suchen, die bereichsübergreifend Veränderungen auf den Weg bringen wollen. Dazu einladen, die eigene Strategie zu hacken und dafür Räume zur Verfügung stellen, Spielregeln vereinbaren, Vernetzung, Selbstorganisation und Diversity auf allen Ebenen fördern et cetera. Sowie ¬– auch das gehört zum Disruptiven Denken – dafür sorgen, dass die Erneuerer nicht hochnäsig werden, sondern sich zu Unterstützern und Mentoren der Nicht-so-schnellen entwickeln, damit es die Organisation nicht zerreißt.
MICE Club: Und abgeleitet auf die MICE-Branche – wie gestalte ich disruptive Events?
Bernhard von Mutius: Das verrate ich Ihnen nicht. Nein, im Ernst. Das wissen Sie viel besser als ich. Ich kann Ihnen nur Methoden und Tipps an die Hand geben, die Ihnen helfen, selbst wirksam und kreativ disruptive Lösungen zu entwickeln. Allein und vor allem im Team. Plus vielleicht ein paar Beispiele von disruptiven Lernreisen, von denen ich erzählen kann, wenn wir uns am 17. Juni beim MICE Club LIVE in Berlin sehen.
MICE Club: „Disruptive Thinking ist (…) die Kunst und Disziplin, mit Brüchen und Widersprüchen besser umzugehen.“ Ist disruptives Denken also ein Handwerk und grundsätzlich für jeden erlernbar?
Bernhard von Mutius: Ja. Es ist zu einem Großteil ein Handwerk. Es kann genauso gelernt werden wie Design Thinking oder systemisches Denken (auf die es aufbaut). Es gibt dazu auch eine Reihe Tools, die man nutzen kann. Und doch ist es vor allem ein Mindset – und in jedem Fall mehr als ein Toolset. Es ist eben ein kreatives, emphatisches Handwerk. Es behauptet nicht, das Ergebnis im Voraus exakt planen zu können, vielmehr rechnet es mit dem Unerwarteten, manchmal auch Chaotischen, das aber vielleicht zum überraschenden Einfachen führt, das uns Freude macht.
MICE Club: In Ihrem Buch beschreiben Sie das Spannungsfeld zwischen der Gewissheit, vieles zu können und vielem gewappnet zu sein und dem Gefühl, nicht das Richtige zu tun. Was ist Ihr wichtigster Rat im Umgang mit radikalen Umbrüchen?
Bernhard von Mutius: Dieses Spannungsfeld zwischen Wissen und Nichtwissen auszuhalten. Nichtwissen ist eine Ressource. Alle Entdecker und kreativen Erneuerer wussten das. Und diese Ressource ist ein Unterscheidungsmerkmal zwischen uns Menschen und den schlauen Maschinen, die uns künftig immer mehr abnehmen werden. Denn nur aus dem Nichtwissen heraus entsteht das schöpferisch Neue. Manchmal auch das gute, nachhaltig Neue. Umberto Eco, der eine wirklich riesige Bibliothek hatte, wurde oft gefragt: Haben Sie diese Bücher alle gelesen? Seine Antwort war: Nein. Natürlich nicht. Die wichtigsten Bücher einer Bibliothek sind die nichtgelesenen.
MICE Club: Vielen Dank, Bernhard von Mutius!
(Teile dieses Beitrags erschienen zuerst bei Montua Partner: https://montua-partner.de/querdenken-ohne-gelaender)
Das könnte Sie auch interessieren:
- „Mitarbeiter brauchen einen tieferen Sinn, keinen Kickertisch“
- Professionell improvisieren
- Führen mit neuer Autorität
Bildquelle: http://www.vonmutius.de