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Themensammlung - Change-Kommunikation

Denken ohne Box (Teil 2)

„Wie kann man Disruption denken?“ - Bernhard von Mutius im Gespräch über Disruptive Thinking

Die Online-Plattform für Zukunftsideen changeX behandelt Themen des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft. In Kooperation mit dem MICE Club veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen spannende Beiträge unseres Content-Partners, wenn wir diese für unsere Leserschaft interessant finden.

In Teil 1 des Interviews mit Bernhard von Mutius, promovierter Sozialwissenschaftler und Philosoph, systemischer Berater und Senior Advisor an der HPI School of Design Thinking, lag der Fokus auf Disruptive Thinking. Lesen Sie nun in Teil 2 des Interviews mehr darüber, was Disruptive Thinking genau ausmacht.

Was macht nun Disruptive Thinking genau aus? Was sind die Kerngedanken dieses Konzepts?

Disruptive Thinking lässt sich nicht in irgendwelche Kästchen oder Schubladen packen. Eher hat es mit dem Aufsprengen der Kästchen zu tun: Es ist Denken ohne Box. Allgemein gesagt: Wir können nicht genau sagen, wo und wie sich die nächste Disruption ereignen wird. Wir können nur technologische, wirtschaftliche und soziale Muster aufzeigen, um nicht blind in eine Entwicklung hineinzulaufen. Disruptive Thinking reflektiert dies. Es arbeitet deshalb mit Fragen und mit Spannungsfeldern: Wissen und Nichtwissen, Routinen und Nichtroutinen, Maschinen und Menschen. Einseitige Bestimmungen genügen nicht: Nur Wissen, Routinen, Maschinen, das ist nicht genug. Das hieße, einseitig auf Gewissheiten, auf Zwangsläufigkeiten zu setzen.

Zum Disruptive Thinking gehört also erstens das Sich-Einstellen auf Nichtwissen, auf das Unvorhergesehene, das Überraschende. Dazu gehört zweitens die Fähigkeit, zu skalieren, aus kleinen Anfängen heraus gleichsam den Schneeball ins Rollen zu bringen, der später zu einer Lawine wird. Aber das reicht noch nicht. Sondern dazu gehört drittens die Fähigkeit, Technologie mit Design zu verknüpfen. Erst mit dieser Verknüpfung von Nichtwissen, von Skalierungsfähigkeit und der Fähigkeit, in der Kombination von Technologie und Design Dinge zu entwickeln, die überraschend einfach sind, können, so glaube ich, disruptive Strategien und disruptive Innovationen entstehen. Deshalb heißt auch der erste praktische Imperativ von Disruptive Thinking: „Sei überraschend einfach!"

Stichwort „Design": Es gibt da einen begrifflichen Gleichklang - sogar die Anfangsbuchstaben sind identisch. Wo liegt der Unterschied zwischen Disruptive Thinking und Design Thinking?

Genau in dem Disruptiven. Um mit dem Positiven zu beginnen: Design spielt für mich eine ganz entscheidende Rolle. Design rückt ins Zentrum. Design Thinking als eine Methode und Form, vernetzt, experimentell, kokreativ in Organisationen Routinen aufzubrechen, ist elementar für die disruptive Arbeit. Disruptive Thinking baut auf Design Thinking - wie auf systemischem Denken - auf, glaubt aber, dass wir weiter denken können. Wie der Begriff Disruption sagt: Es wird künftig immer wichtiger, Brüche und Widersprüche wahrzunehmen, sie anzunehmen und damit zu arbeiten, um neue Kombinationen zu entwickeln. In der Strategie, in der Struktur und in der Kultur der Organisation. Gefragt ist ein integrierter Ansatz des neuen Denkens im Management.

Ist Disruptive Thinking vielleicht auch eine Reaktion darauf, dass Querdenken mittlerweile zum Mainstream geworden ist?

Ob es das wirklich geworden ist, sei mal dahingestellt - als Schlagwort vielleicht.

… das meinte ich …

Querdenken ist zu wenig. Querdenken folgt einem vorgegebenen Muster: Ich gehe immer quer. Aber die Herausforderung ist das Denken ohne Geländer, um die Formulierung von Hannah Arendt zu gebrauchen. Salopp gesagt geht es um ein Querdenken ohne Geländer. Jetzt sind wir bei dem zweiten Imperativ: „Brich Routinen!" Es geht nicht nur um die Fähigkeit, kreative und kokreative vernetzte Prozesse als Alternative zu den klassischen, funktionalen Abteilungsstrukturen, den sogenannten Silos, zu bauen. Sondern es kommt eben darauf an, beide Seiten nutzbar zu machen und aus dem Widerspruch, der in der Organisation entsteht, etwas Zukunftsfähiges zu entwickeln, statt sich bloß auf eine Seite zu schlagen. Das hat mit dem zu tun, was in den letzten Jahren in der Terminologie des Managements als Ambidextrie aufgetaucht ist …

Ambidextrie heißt?

… vom Wortursprung her Beidhändigkeit. Es beschreibt die Fähigkeit von Organisationen, beide Seiten gleichermaßen nutzen zu können, also gleichermaßen effizient und flexibel zu sein. Ambidextrie meint das Wechselspiel von Exploitation - also Nutzung von Bestehendem - und Exploration - Erkundung von Neuem.

Deshalb gehört für mich zum Disruptive Thinking auch die Fähigkeit, Übersetzungsarbeit zu leisten, um diese beiden Typen und Arbeitsmodi der Organisation miteinander spielerisch zu verbinden, vielleicht auch zu versöhnen. Damit es die Organisation nicht zerreißt. Jemand hat mal gesagt: Disruptive Thinking ist so etwas wie das Betriebssystem für eine ambidextre Organisation.

Querdenken geht immer nur quer, das ist schön formuliert. Meinen das die Bilder Offroad- und Bergweg-Denken? Ein Denken, wo es eben nicht immer nur geradeaus oder quer geht, sondern auch rauf und runter und im Zickzack und mal ganz ins Unübersichtliche?

Ich habe versucht, das in drei Gegensatzpaaren zu fassen. Das eine ist „Autobahn versus offroad oder Bergweg": also lineares versus nichtlineares Denken. Das zweite ist „Silo versus vernetzt" - oder, wie Uli Weinberg es nennt, "Brockhaus-Denken versus vernetztes Denken". Das ist das Moment, aus dem sich Geschwindigkeit und Stärke der Innovation in der neuen Organisation entwickeln. Das dritte Moment ist das künftige Zusammenspiel von Maschinen und Menschen mit der Frage: Was lernen wir voneinander? Alles drei sind Spannungsfelder und nicht nur einseitige Bilder. Das ist etwas völlig anderes als Querdenken.

Und was lernen wir daraus?

Dieses Denken gibt uns die Möglichkeit, in eine gewisse Distanz zu den scheinbar unausweichlichen Entwicklungen der digitalen Transformation zu treten, um mehr Freiheitsgrade zu bekommen. Und die Rolle des Menschen - der Mitarbeiter in Start-ups, in Unternehmen, in Organisationen - als gestaltende Akteure in Freiheit stärker in den Blick zu bekommen. Der dritte praktische Imperativ lautet deshalb: „Stärke die Menschen!"

Wenn man das richtig durchdenkt: Diese Brüche, mit denen wir es momentan zu tun haben, und die Widersprüche, die durch die Organisationen gehen - sind das nicht die wirklich großen Herausforderungen, die vor uns stehen? Die Frage ist: Können wir damit umgehen, können wir das balancieren? Ich glaube, das Balancieren wird in den nächsten Jahren noch wichtiger werden. Vor allem, weil das Thema Disruption noch eine ganz andere praktische Bedeutung bekommen wird - eine Bedeutung, die weit über das hinausreicht, was wir uns heute vorstellen können. Ich nenne es die „große Disruption", eine schleichende, große Disruption. Für die klassischen großen Organisationen - insbesondere für die Teile, die für das „Exploite" und für die Effizienzoptimierung zuständig sind - steht uns diese Disruption in den nächsten Jahren überall bevor. In den alten Organisationen werden große Teile wegbrechen - beziehungsweise durch smarte Maschinen ersetzt werden, wenn man die denn zur Organisation zählen möchte. Denn Effizienz können die Maschinen besser.

Diese Spannung zwischen den unterschiedlichen Teilen der Organisation ist ja die Situation, die Clayton Christensen als Innovator’s Dilemma beschrieben hat. Inwiefern ist Disruptive Thinking ein neues Betriebssystem, das einer Organisation ermöglicht, mit diesen Herausforderungen besser umzugehen als die klassisch hierarchisch gebaute?

Als Erstes, weil sie diese Widersprüche überhaupt wahrnimmt und sie wirklich thematisiert. Und nicht wegschaut und so tut, als wäre immer nur entweder die eine oder die andere Seite gut. In dem klassischen Denken, in dem wir alle sozialisiert worden sind, ist der Widerspruch ja etwas Schlimmes. Wenn wir sagen: „Der widerspricht sich", ist das nicht nett gemeint. Wir versuchen, den Widerspruch zu umgehen. Wir beharren auf unserem Standpunkt und vermeiden es, auf die Insel des anderen zu gehen.

Deshalb stehen sich in den Organisationen oft zwei Fraktionen unversöhnlich gegenüber: Auf der einen Seite diejenigen, die die Gegenwartsinteressen vertreten, verkürzt gesagt die Gegenwartspartei. Sie besteht darauf: Wir müssen erst mal Kurs halten, unsere laufenden Projekte sauber abarbeiten, wir dürfen uns nicht auf das riskante Spiel einlassen, einen radikal anderen Kurs einzuschlagen. Die andere Fraktion sagt hingegen: Wir müssen uns jetzt voll auf das Kommende einstellen, sonst sind wir in ein paar Jahren weg vom Fenster. Wir müssen alle Kraft in die neue Entwicklung legen. Diese Fraktion vertritt die Zukunftsinteressen, nennen wir sie die Zukunftspartei. Sie hat meist weniger Gewicht. Und beide verhalten sich wie Feuer und Wasser.

Siehe Autoindustrie?

An der Entwicklung im Automobilsektor sieht man das exemplarisch: klassischer Verbrennungsmotor versus neue Antriebe, insbesondere Elektromotor. Jeder, der in den letzten Jahren in den Automobilfirmen im Topmanagement in die Entwicklung von Elektroantrieben investiert hat, musste sich sofort vor irgendwelchen Aufsichtsräten oder vor anderen Managern verteidigen. Die sagten: Ihr verbrennt das Geld, ihr macht das Unternehmen kaputt, wenn ihr so viel in neue Technologien hineinsteckt. Die Kunden wollen das noch gar nicht. Die anderen hingegen, die in Elektroantriebe investiert haben und diese propagieren, haben alle Gründe für sich, das genaue Gegenteil zu vertreten: Ihr fahrt mit euren Verbrennungsmotoren eine Strategie, die keine Chance mehr hat. Aber die Partei der Zukunftsinteressen muss verstehen, dass auch die Gegenwartspartei ein legitimes Interesse vertritt. Beides denken zu können, zu verhindern, dass dieser Gegensatz die Organisation zerreißt, sondern dafür zu sorgen, dass in der Organisation durch ein wechselseitiges Verstehen eine fruchtbare Entwicklung der Organisation eingeleitet wird - das ist die große Herausforderung für viele Organisationen heute.

Im Feld der Ökonomie ist Disruption ja nicht eine Eigenschaft einer Innovation, sondern ihre Wirkung. Wenn man das auf das Denken überträgt: Ist Disruption eine Eigenschaft eines Gedankens oder seine Wirkung?

Im disruptiven Denken ist es die Antizipation einer möglichen Wirkung. Also nicht - und da wären wir jetzt wieder bei der großsprecherischen Seite - zu sagen: Ich weiß genau, „es wird eine Disruption". Denn das weiß man am Anfang nicht, wenn man etwas entwickelt. Aber die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass es dazu werden könnte. Und zu antizipieren, was man tun müsste, um die positiven Möglichkeiten einer Disruption strategisch zu entfalten. Sowie zugleich im antizipatorischen Sinne die möglichen Risiken zu durchdenken. Und die Ängste vieler Menschen ernst zu nehmen. Darum geht es.

Damit sind wir wieder bei dem, was ich die große Disruption nenne: den großen Umbruch, der uns meiner Meinung nach in den nächsten zehn, 20, 30 Jahren bevorsteht. Es wäre eine der zentralen kreativen Aufgaben für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die möglichen zerstörerischen, wirklich zerstörerischen Wirkungen der digitalen Transformation zu antizipieren. Und jetzt schon experimentell und unkonventionell Alternativen zu entwickeln und durchzuspielen - mit der Frage: Was kann der Mensch besser? Andere Kompetenzen, Tätigkeitsprofile, Berufsbilder, Beschäftigungsmodelle et cetera. So wie man im unternehmensstrategischen Bereich sagt: Wir durchdenken, wie ein möglicher Angreifer unser Geschäftsmodell zerschlagen könnte. Wir holen gedanklich den Angreifer ins eigene Haus, um das durchzuspielen. So sollten wir schon jetzt die möglichen Angriffe auf das „Geschäftsmodell" unserer Arbeits- und Beschäftigungsgesellschaft durchdenken. Und das nicht nur in kleinen Fachgremien. Sondern das müsste eine große unternehmerische und gesellschaftliche Debatte werden.

Jetzt kommt die Praxisfrage aus der Ratgeberredaktion: Was heißt denn das nun konkret: disruptiv denken? Wie denkt man disruptiv?

Man beginnt ganz simpel: Nimmt sich ein weißes Blatt, macht in der Mitte einen Strich und schreibt auf der linken Seite die Dinge hin, die einem bekannt sind, das, was man für richtig hält oder gesetzt hält, was Mainstream ist. Auf der rechten Seite trägt man das Unbekannte an, das Fremde, das Entgegengesetzte, die mögliche Opposition. Oder man malt links ein Ausrufezeichen: „So ist es!" Und rechts ein Fragezeichen: „Ist es so?" Das ist das Nichtwissen im Wissen. Oder man nimmt diese Bilder, die skizzenhaften Modelle, von denen wir vorhin gesprochen haben - zum Beispiel linke Seite Autobahn, rechte Seite Bergweg -, und versucht, mit diesen beiden Seiten in einen Arbeitsmodus zu kommen, neue Dialogformate zu schaffen.

Disruptive Thinking bedeutet deshalb auch, immer wieder zu irritieren, Gewohnheiten zu brechen, sich ins Fremde zu stellen und dabei zu lernen, sich in die fremde Seite hineinzuversetzen. Das kann sehr fruchtbar sein für die Innovationsentwicklung und für die Organisationsentwicklung - übrigens auch für die eigene, persönliche Entwicklung. Es tut manchmal ganz gut, dem Gegensätzlichen Raum zu geben, bevor es feindlich aufeinanderprallt. Es könnte uns auch weiterbringen in dem eingerosteten Freund-Feind-Schema zwischen den Optimisten der technologischen Entwicklung und den eher kritisch eingestellten Zeitgenossen. Nach der Devise: Entweder man ist Optimist, dann sieht man die Zukunft positiv, oder man ist kritisch, dann sieht man die Zukunft pessimistisch. Aber das ist ein archaisches Denkmuster und ein rhetorischer Kniff, der nur dazu dient, dem anderen den Schwarzen Peter zuzuschieben. Gefragt sind Optimismus und Kritikfähigkeit. Wir brauchen einen kritischen Optimismus. Einen Optimismus, der nicht alles Neue für gut hält und abnickt, sondern der spielerisch daran arbeitet, dass das Neue gut wird. Mit disruptiver Freude.

Das war Teil 2 des Gesprächs mit Bernhard von Mutius darüber, was Disruptive Thinking genau ausmacht. Lesen Sie in Teil 1 des Interviews mehr über Disruptive Thinking.

Dieses Interview veröffentlichen wir in enger Kooperation mit der Online-Plattform changeX. Finden Sie hier den kompletten Beitrag auf changeX.


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Bildquelle: © Das Foto hat uns der Interviewpartner zur Verfügung gestellt.

Autor: Winfried Kretschmer (Gastautor)

Veröffentlicht am: 30.11.2017


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