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Psychologische Erkenntnisse zur Sicherheit von Großveranstaltungen

Dr. Stefan Poppelreuter vom TÜV Rheinland im Interview

Dr. Stefan Poppelreuter ist Diplom-Psychologe und leitet den Bereich Corporate & HR Development im Geschäftsfeld Training & HR Development in der TÜV Rheinland Akademie. In unserem exklusiven MICE Club-Interview gibt er uns spannende Einblicke in die psychologische Betrachtung von Großveranstaltungen.

MICE Club: Veranstaltungssicherheit steht seit eh und je auf der Agenda von Veranstaltungsplanern. Welche Kompetenz und welche Beratungsleistungen bietet der TÜV Rheinland in diesem umfassenden Themengebiet?

Im rechtlichen Feld unterstützt die TÜV Rheinland Akademie Betreiber, Veranstalter oder zu genehmigende Behörden bei der rechtskonformen Vorbereitung und Durchführung von Veranstaltungen sowie bei der Unterhaltung von Versammlungsstätten. Die genannten Zielgruppen lernen durch unsere Seminare die entscheidenden rechtlichen Anforderungen an Sicherheitskonzepte bei Veranstaltungen kennen.

Hinsichtlich der praktischen Umsetzung der Versammlungsstättenverordnung (VStättVO) bieten wir technische und administrative Kenntnisse, um als Behörde, Betreiber, Veranstalter oder Sachkundige Aufsichtsperson (SAP) Veranstaltungen zu genehmigen, zu organisieren, in Auftrag zu geben oder zu begleiten. Anhand von Beispielen aus der Praxis vermitteln wir eine individuelle Sensibilisierung, um Gefährdungspotenziale bei Veranstaltungen fachgerecht zu qualifizieren und entsprechende Betriebsanweisungen und Unterweisungen durchzuführen.

Mehr zu den Seminaren, zum Beispiel „Erstellung eines Sicherheitskonzepts gem. § 43 MVStättVO“ oder „Veranstaltungsleiter(TÜV) gemäß § 38 Abs. 2 MVStättVO / DIN 15750“ finden Sie hier.

Mit anerkannten Experten der Branche haben die Deutsche Event Akademie (DEAplus) und TÜV Rheinland Standards außerdem die derzeit einzigartige Zusatzqualifikation zum „Fachmeister für Veranstaltungssicherheit“ entwickelt.

Der TÜV Rheinland Industrieservice führt an Anlagen im Bereich Veranstaltungstechnik und Bühnenbau Abnahmeprüfungen und wiederkehrende Prüfungen nach den gesetzlichen Vorschriften durch. Wir führen für Hersteller oder Betreiber von mobilen Anlagen oder Freizeitparks Prüfungen im Rahmen des Erstgenehmigungsverfahrens, Neuabnahmen, Verlängerungsprüfungen und Sonderprüfungen durch. Dazu gehören vor dem ersten Betrieb

- Konstruktionsbegleitende Prüfungen
- Unterstützung bei der Optimierung der geplanten Anlage
- Prüfung der eingereichten Unterlagen hinsichtlich der Einhaltung aktueller Vorschriften
- Abnahmeprüfung vor Ort

Im laufenden Betrieb

- Durchführung von Verlängerungsprüfungen
- Durchführung von Sonderprüfungen
- Abwicklung von Gebrauchsabnahmeprüfungen

Auf Wunsch erstellen wir auch technische Gutachten und Wertfeststellungen. TÜV Rheinland verfügt über baurechtlich anerkannte Genehmigungsstellen für Fliegende Bauten. Die Genehmigungsstellen erteilen im Rahmen ihrer Zuständigkeit Ausführungsgenehmigungen nach Abschluss der Prüfungen an Fliegenden Bauten und stellen die zugehörigen Prüfbücher aus.

Rheinenergiestadion (2015)

MICE Club: Im April 2016 war der TÜV Rheinland erstmals Ausrichter der Fachtagung Veranstaltungssicherheit in Köln. Der Expertentreff richtete sich gleichermaßen an Betreiber, Veranstalter, Behörden und die Veranstaltungsbranche im Ganzen: Wie teilten sich die Teilnehmer auf die verschiedenen genannten Personengruppen auf? Gibt es eine Zielgruppe, die besonders häufig vertreten war?

Die Verteilung hinsichtlich der Branche war, gemessen an den größeren Gruppen:

- 7% Rundfunk/Fernsehen
- 18% Städte / Kreisverwaltung
- 10% Sparkasse/ Banken/Versicherer
- 15% Uni / Hochschule
- 20% Eventveranstalter
- 5% Feuerwehr

MICE Club: Veranstaltungssicherheit bei Großveranstaltungen ist nicht erst seit der Love Parade-Katastrophe in das Bewusstsein von Verantwortlichen und Entscheidungsträgern gerückt. Aktuelle Ereignisse wie die zahlreichen wegen Unwetter abgebrochenen Open Air-Festivals oder die jüngste grauenvolle Amokfahrt von Nizza oder der Anschlag von Ansbach zeigen auf, dass gerade Massenveranstaltungen im Freien erheblichen Risiken ausgesetzt sind. Welchen Beitrag können die Experten vom TÜV Rheinland leisten, um mögliche Gefährdungslagen bereits in der Planung auf ein Minimum zu reduzieren?

Hier geht es vor allem um die Erstellung und praktische Umsetzung von Sicherheitskonzepten nach Muster-Versammlungsstättenverordnung. Unsere Kunden erfahren, wie notwendige Risikobeurteilungen und Sicherheitskonzepte zu erstellen und wie die jeweils erforderlichen Maßnahmen mit allen Beteiligten abzustimmen und die Abläufe entsprechend zu koordinieren sind. Darüber hinaus zeigen unsere Experten, wie der Veranstaltungsleiter mit der Auswahl-, Organisations- und Kontrollverantwortung des Betreibers umgehen muss und wie diese gerichtsfest zu dokumentieren ist.

Rock am Ring in Mendig. Abnahme des begehbaren Jägermeister-Hirschen (2016)

MICE Club: Herr Dr. Poppelreuter, Ihr Fachgebiet liegt in der psychologischen Betrachtung von Großveranstaltungen. Welche psychologischen Erkenntnisse und Erwägungen zur Sicherheit von Großveranstaltungen existieren und welche Handlungsoptionen ergeben sich daraus für Betreiber und Veranstalter?

Die Gründe für das Zusammenkommen großer Menschenmassen sind mannigfaltig, ihre individuelle Zusammensetzung entsprechend variabel. Häufige Attribute solcher Zusammenkünfte sind starke Enge, große Wärme, hohe Lautstärke, ein gemeinsames Ziel oder eine Identifikation als Gruppe, aber nur sehr selten Gewaltbereitschaft!

Mit der Psychologie der Masse beschäftigte sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts Gustav LeBon. Er beschrieb Merkmale von Menschenmassen, so die Triebhaftigkeit und Erregbarkeit. Die Masse ist nur „Spielball“ aller äußeren Reize und spiegelt deren Schwankung, keine Handlung ist vorbedacht. Dieser Antrieb ist so gebieterisch, dass auch der eigene Vorteil in den Hintergrund rückt. Hinzu kommt nach LeBon die Überschwänglichkeit: Die Masse zweifelt nicht an ihrem Handeln und ergeht sich stetig in Übertreibungen. Weiteres Kennzeichen von Menschenmassen ist die Unduldsamkeit. Es besteht nach LeBon eine instinktive Feindseligkeit gegenüber Veränderung und Fortschritt. Schließlich äußerte er sich zur Sittlichkeit der Masse. Je nach Einfluss ist die Sittlichkeit der Masse viel höher oder niedriger, als die des Einzelnen, die eigene Verantwortung wird der Masse übertragen, es kommt zur so genannten Verantwortungsdiffusion.

Es gibt eine Vielzahl von sozialpsychologischen Theorien, die sich mit dem Verhalten von Menschen in Massen beschäftigen. Zu nennen sind hier beispielsweise die Attributionstheorie. Zu dichte Menschenmassen verletzen nach dieser Theorie den persönlichen Raum. Das führt zu (1) einer starken inneren Anspannung (arousal) und (2) dem Versuch, den Grund dieser Anspannung zu identifizieren (Attribution). Nur wenn die Aufregung auf etwas anderes als die Menschenmasse bezogen werden kann, wird sie nicht als Beengung erlebt. Fußballspiele oder Konzerte sind oft sehr dicht, aber es entsteht weder ein Gefühl der Beklemmung noch eine Panik. Hier wird die Anspannung auf das Spiel übertragen!

Eine andere Theorie ist die der erlernten Hilflosigkeit. In der Gruppe scheint es so, als hätte das eigene Handeln keinen Einfluss auf das, was um einen herum passiert. Der so erlebte Kontrollverlust führt längerfristig zu einer Abnahme der Motivation für zielgerichtetes Handeln. Menschen in Massen neigen demnach zu Passivität, Reaktionsträgheit und der Übernahme der Verhaltensweisen des Umfeldes.

Die Psychologie kann zahlreiche Hinweise und Empfehlungen für Betreiber und Veranstalter von Massenevents geben. Zu nennen sind hier zum Beispiel:

- Management statt Kontrolle

Die verbreitete Vorstellung einer „Massenpanik“ entspricht nicht der Realität! Opfer einer Massenkatastrophe berichten fast immer von der außergewöhnlichen Hilfsbereitschaft der Masse.

Das gemeinsame Unglück schweißt die Gruppe zusammen und ist sogar förderlich für die soziale Interaktion. Panisch wird meist nur, wer einer unmittelbaren Bedrohung, wie einer Atemnot oder der Angst zerquetscht zu werden, ausgesetzt ist. Mit anderen Worten: Das natürliche Verhalten der Masse ist funktional! Es gilt nicht das Verhalten der Masse zu unterdrücken, sondern gezielt zu steuern: Die besten Helfer während einer Katastrophe befinden sich bereits mittendrin.

- Informationsvermittlung

Oft werden Informationen von der Masse fern gehalten, um zu verhindern, dass die angenommene Panik sich verschlimmert. Wenn Informationen offen kommuniziert werden, hilft das den Menschen, die Gefahr besser einzuschätzen und ihr Handeln entsprechend zu planen, andere Opfer gezielt zu informieren und zu beruhigen und den Instruktionen zur Evakuierung ohne weitere Nachfrage zu folgen. Gute Instruktionen sind knapp, wahr, deutlich und persönlich.

- Identifikation schaffen

Oft entsteht Gewaltpotenzial nur, weil die Menschen den Eindruck haben, dass es von ihnen erwartet wird (Selbsterfüllende Prophezeiung). Große Polizeiaufgebote, stark uniformiertes Sicherheitspersonal oder ständige Überwachung führen zu einer starken Erregung des Publikums. Viele fühlen sich in die Rolle des Aggressors gezwängt.

Was folgt daraus? Weniger Polizei kann mehr Polizei sein, zivile Kleidung mindert das Gewaltpotenzial und Sicherheitsvorkehrungen sollten eher von mechanischen (zu enge Treppen, versperrte Ausgänge), als von menschgemachten (Panik, Aggression) Problemen ausgehen.

- Wissen teilen, Unglücke verhindern

In der Öffentlichkeit liegt ein falsches Bild vom Verhalten von Menschenmassen vor (aggressiv, dumm, panisch). Verantwortliche, wie Polizei oder Veranstalter, verwenden oft ungeeignete Strategien zum Umgang mit der Masse. Die zentrale Rolle der Psychologie ist es hier, ein korrigiertes Bild der tatsächlichen Zustände für Teilnehmer und Verantwortliche solcher Veranstaltungen zu schaffen, die nötigen Prozesse zur adäquaten Lenkung einer Masse zu vermitteln, und die wahren Ursachen hinter Massenkatastrophen aufzudecken.

MICE Club: Herr Dr. Poppelreuter, vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Stefan Poppelreuter von der TÜV Rheinland Akademie

Dr. Stefan Poppelreuter promovierte 1996 zum Thema „Workaholics“, was ihn nicht davon abhielt, elf Jahre lang als verkehrspsychologischer Gutachter und Moderator freiberuflich für TÜV Rheinland tätig zu sein. Seit 2001 arbeitet er hauptberuflich für TÜV Rheinland in den Bereichen Personal- und Organisationsentwicklung sowie Feedbackverfahren. Kommunikation ist für ihn das Instrument, Wertschätzung die Haltung, um Menschen zu verstehen, Dinge besser zu machen und Zufriedenheit zu erreichen.


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Bildquelle: TÜV Rheinland

Autor: Dominik Deubner

Veröffentlicht am: 28.07.2016


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