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Hotels & Locations, Themensammlung - Meetingarchitektur

Konferenzraum als „Folterkammer“

Diesel macht mobil gegen vertane Zeit

Ausgangslage ist eine Studie des britischen „The Guardian“. Demnach verbringt ein durchschnittlicher Büroangestellter rund 9.000 Arbeitsstunden in Meetings und Konferenzen. Experten gehen davon aus, dass rund die Hälfte dieser Zeit vergeudet ist. Zu viel Smalltalk, zu lange Denkpausen, fehlende Konzentration, kommunikative Ablenkung und umständliche Abstimmungsprozesse sind nur einige Ursachen hierfür. Renzo Rosso, Gründer des italienischen Modelabels Diesel, war dies schon immer ein Dorn im Auge. „Meine besten Entscheidungen habe ich immer schnell getroffen“, sagt er.

So wagte er sich gemeinsam mit der Agentur Publicis Italy an das Projekt „Capsule“ heran, einen bewusst provokativ gestalteten Prototypen für einen neuartigen Konferenzraum. Vorgestellt wurde dieser am 25. Mai 2018 auf dem Mailänder „Wired Next Fest“, einem jährlich stattfindenden Innovationsfestival. Das Ziel des „Capsule“ ist eindeutig formuliert: die Beschleunigung von Meetings und Konferenzen, um diese kürzer und effizienter zu gestalten. Hierzu ist man einen überaus ungewöhnlichen Weg gegangen. Denn der Tagungsraum ist absichtlich unbequem, schmucklos und eng gehalten – einerseits, um die Konzentration auf das Wesentliche zu fördern, andererseits mit der Absicht, diesen möglichst schnell wieder verlassen zu wollen.

Ein Experiment gegen Ineffektivität

Maximal 15 Minuten soll ein Meeting im „Capsule“ dauern. Eine rückwärts laufende Uhr erhöht dabei den Druck auf die Teilnehmer. Diverse Unannehmlichkeiten erhöhen das Stresslevel und sollen für mehr Tempo bei Besprechungen sorgen. Dazu gehört der Einsatz einer neigbaren Tischplatte, unangenehmes Stroboskoplicht und eine störende Windmaschine. Natürlich möchte Diesel seine Mitarbeiter künftig nicht zum unbequemen Tagen unter zweifelhaften Umständen zwingen. Der „Capsule“ ist vielmehr als Experiment gedacht, dass dazu anhalten soll, eine grundsätzliche Debatte über den Sinn und Unsinn oftmals langatmiger Meetings mit umständlichen Entscheidungsprozessen zu führen.

Hierfür wurden Gäste in Mailand von Diesel eingeladen, in der fest installierten „Capsule“ innerhalb einer Viertelstunde aussagekräftige Videoinhalte zu erstellen. Parallel dazu ruft der Modekonzern über das Businessnetzwerk LinkedIn dazu auf, kreative Vorschläge zur anvisierten Verkürzung und Effizienzsteigerung von Meetings einzureichen. Mit dem Projekt will man sich gemäß dem Unternehmensmotto „For Successful Living“ auch im Bereich interner Strukturen und Prozesse als Lösungsanbieter präsentieren, der sich Gedanken um eine bessere Work-Life-Balance macht.

Das Gegenteil von gut ist auch gut

Auf den ersten Blick mag es paradox klingen, dass ausgerechnet ein beengter und unkomfortabler Tagungsraum dazu beitragen soll. Schließlich entstehen andernorts stylische Lounges mit Designermöbeln, die zusätzlich gerne mal mit Kickertischen, Espressomaschinen und Obstkörben ausgestattet sind. In vielen Unternehmen geht man praktisch den umgekehrten Weg. Hier soll die Meetingkultur durch Wellnessambiente und Wohlfühlatmosphäre auf ein neues Level gehoben werden. Fraglos aber kann man sich leicht vorstellen, dass sich die Arbeits- und Tagungszeit auf diese Weise eher verlängert als verkürzt. Die grundsätzliche Frage eines Angestellten mag daher lauten: Will ich schneller fertig sein, um früher nach Hause zu können, oder möchte ich mich an meinem Arbeitsplatz so wohnlich wie möglich einrichten, da ich ja ohnehin zahlreiche Überstunden zu leisten habe? Dem Arbeitgeber stellt sich natürlich eine andere Frage: Bevorzuge ich kurze Meetings, in denen schnelle Entscheidungen getroffen werden, oder ist ein langer und breiter Austausch erwünscht, um nach vergleichsweise langer Zeit einen möglichst breiten Konsens zu erzielen?

In Mailand haben sich probehalber jedenfalls genügend Teilnehmer gefunden, um im „The most uncomfortable meeting room“ möglichst effektiv wenig Zeit zu verbringen, Natürlich wurde das auch im Video festgehalten.


Ein spannendes Experiment ist Diesel allemal gelungen. Psychologisch betrachtet ist es natürlich keine neue Erkenntnis, dass der Mensch unter dem Druck von Extremsituationen zu so mancher Höchstleistung fähig ist. Die kann man wiederum nicht Tag für Tag bewältigen und hier verkürzte Zeit, mag dort ja auch zwangsweise hinzugewonnen werden.

Widmen wir uns abschließend also dem reinen Eventeffekt. Da ist es sicherlich mehr als interessant zu beobachten, dass ein Best-Practice-Beispiel auch mit einer Art „Anti-Faszination“ daherkommen kann. In einem VR-Room mag man neue Welten entdecken und sich in Escape-Rooms immerhin gruseln. Im „Capsule“ von Diesel aber winkt einem nichts – außer der Gewissheit, unter Druck schneller arbeiten zu können.


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Bildquelle: Diesel

Autor: Frank Brehm

Veröffentlicht am: 07.06.2018


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