Jetzt MICE Club-Mitglied werden oder 30 Tage kostenfrei testen

<   Zurück
EventTech

Verlauf exponentiell, Wirkung disruptiv (Teil 2)

Ein Gespräch mit Kurt Matzler über Digitalisierung und digitale Disruption

In Teil 1 des Interviews mit Kurt Matzler, Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Bozen, lag der Fokus auf den Auswirkungen der digitalen Transformation auf Unternehmen und die exponentielle Entwicklung dieses Transformationsprozesses. Lesen Sie nun in Teil 2 des Interviews mehr über die digitale Disruption.

Kurt Matzler ist Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Bozen. Er ist Co-Autor der deutschsprachigen Ausgabe des Buches The Innovator’s Dilemma mit Clayton M. Christensen, Professor an der Harvard Business School, und Co-Autor des Buches Digital Disruption.

In Teil 1 des Interviews haben wir über Digitalisierung gesprochen. Nehmen wir das zweite Titelstichwort mit hinzu. Was ist digitale Disruption?

Kurt Matzler: Digitalisierung kann in zweierlei Weise wirken. Sie kann helfen, bestehende Produkte, bestehende Dienstleistungen, bestehende Geschäftsmodelle besser zu machen. Autonomes Fahren beispielsweise ist der nächste logische Schritt im Automobilsektor. Digitale Disruption hingegen heißt, dass neue Geschäftsmodelle entstehen, die die bestehenden Geschäftsmodelle komplett ablösen. Im ersten Fall sehe ich wenig Risiko für etablierte Unternehmen. Handelt es sich aber um Disruption, wird es schwierig. Denn Disruption heißt, das bestehende Geschäftsmodell zu zerstören. Und davor schrecken viele Unternehmen zurück.

Schumpeter hat von kreativer Zerstörung gesprochen. Er beschreibt damit das Grundmuster, aber das reicht nicht aus, um Disruption zu begreifen. Oder?

Kurt Matzler: Es reicht nicht aus. Clayton M. Christensen hat ja den Begriff der Disruption geprägt. Und er erklärt auch, warum sich etablierte Unternehmen so schwer damit tun. Sie fokussieren natürlich auf den bestehenden Markt und die bestehenden Kunden. Disruptive Technologien hingegen bieten zu Beginn meist eine schlechtere Leistung als etablierte Technologien. Sie sind allenfalls in kleinen Nischen gefragt, nicht aber im Massenmarkt. Deshalb sind sie für etablierte Unternehmen noch längere Zeit uninteressant - nur wenn sich diese Technologie verbessert, wird sie irgendwann marktfähig. Deshalb zögern etablierte Unternehmen bei disruptiven Technologien relativ lange.

Christensen hat in einem Artikel in der Harvard Business Review vor gut einem Jahr noch mal erklärt, was er unter Disruption versteht. Überraschend dabei war, dass er gesagt hat: Uber ist keine disruptive Innovation.

Kurt Matzler: Eine Definition ist per se nie richtig oder falsch, sondern nur zweckmäßig oder nicht zweckmäßig. Aus meiner Sicht erweist sich der Begriff der Disruption im Zusammenhang mit Digitalisierung als zu eng. Christensen sagt, Disruptionen können auf zwei Arten entstehen: Entweder eine qualitativ schlechtere Technologie bewirkt am unteren Ende des Marktes in einer Nische eine Disruption oder mit einer disruptiven Technologie wird ein neuer Markt geschaffen. Ich glaube aber, es gibt eine dritte Art der Disruption: Indem nämlich eine neue Technologie im High-End-Bereich des Marktes eintritt und sich dann von oben nach unten durchsetzt. Tesla beispielsweise. Das Elektroauto ist eine disruptive Technologie. Tesla aber beginnt im Premium-Segment und arbeitet sich von oben nach unten in den Markt vor. Das widerspricht dem klassischen Verständnis von Christensen, nach dem sich eine disruptive Technologie von unten in den Premium-Markt vorarbeitet. Für Christensen ist Uber deswegen keine Disruption.

Das heißt, man müsste den Begriff der Disruption weiter fassen, als es Christensen tut?

Kurt Matzler: Aus meiner Sicht ja.

Und wo liegt die Disruption bei Uber?

Kurt Matzler: Es gibt mehrere Märkte, die möglicherweise disrupted werden: Taxi, Mietwagen und Carsharing. Das Interessante an Uber ist, dass deren Angebot nicht schlechter ist als beispielsweise eine Taxidienstleistung, sondern aus Sicht des Kunden sogar deutlich besser.

Uber scheint mir auch die soziale Qualität, die Anmutung des Taxifahrens zu verändern. Ein traditionelles Taxi ist eine reine Dienstleistung, ein Geschäft. Ein Uber-Taxi hingegen hat eher Peer-Charakter. Das ist eine andere soziale Qualität von Mitfahren.

Kurt Matzler: Definitiv. Die Dienstleistungsqualität ist auch deutlich höher. Man bekommt Wasser angeboten; ein Uber-Fahrer ist in der Regel deutlich freundlicher. Das hat auch mit den Bewertungssystemen zu tun: Der Uber-Fahrer wird bewertet, und ein Uber-Kunde kann einen Fahrer ablehnen, wenn er nicht mit ihm fahren möchte. Das erzeugt Druck, freundlich zu sein, und führt auch zu einer positiveren Beziehung zwischen Uber-Fahrer und Kunde. Hinzu kommt, dass viele Uber-Fahrer nicht professionelle Taxifahrer sind, sondern Teilzeitfahrer, für die dieses Zusatzeinkommen wichtig ist. Sie sind daher besonders motiviert, gute Bewertungen zu bekommen.

Noch kurz zurück zu den unterschiedlichen Disruptionsbegriffen. Mir scheint bei Start-up-Unternehmen im Silicon Valley noch mal ein anderes Verständnis von Disruption vorhanden zu sein, insofern der Begriff mit einer gewissen Angriffslust aufgeladen wird. Er bekommt einen emphatischen Charakter. Beobachten Sie das auch?

Kurt Matzler: Ja. Viele Start-up-Unternehmen im Silicon Valley werden gegründet mit dem Ziel, Branchen zu zerstören. Sie möchten Branchenriesen angreifen und zerstören und dadurch die Welt verbessern. Dieser Geist ist tatsächlich zu beobachten.

Wie bereiten sich Unternehmen am besten auf die digitale Transformation vor? Beziehungsweise, wenn sie heute anfangen, sich vorzubereiten, sind sie dann nicht eigentlich schon zu spät dran?

Kurt Matzler: Es ist noch Zeit. Die erste Runde der Digitalisierung ist ganz klar an das Silicon Valley gegangen. Allerdings haben deutsche und europäische Unternehmen Chancen in der zweiten Runde. In der ersten Runde der Digitalisierung ging es hauptsächlich um Produkte und Dienstleistungen für den Konsumentenmarkt. In der zweiten Runde geht es um Digitalisierung in produzierenden Unternehmen - und da sehe ich eine ganz große Chance vor allem der deutschen Industrie. Aus einem ganz einfachen Grund: Silicon Valley hat keine produzierenden Unternehmen vor Ort. Die Produktionsexzellenz ist zu einem großen Teil in Deutschland. Damit aber haben deutsche Unternehmen einen deutlichen Wettbewerbsvorteil. Sie haben gute Chancen, diese zweite Runde zu gewinnen, allerdings nicht viel Zeit. Die nächsten fünf Jahre werden über Gewinner und Verlierer der Digitalisierung entscheiden.

Sehen Sie die Gefahr, dass produzierende Unternehmen zur bloßen Werkbank der Digitalkonzerne werden? Und nur zu einem kleineren Teil an der Wertschöpfung partizipieren, die in dem gesamten Geschäftsmodell steckt und nicht nur in der Technologie?

Kurt Matzler: Absolut. Wer nicht in der Lage ist, sein Geschäftsmodell zu digitalisieren und mit Daten Geld zu verdienen, der wird degradiert zum Hersteller von Hardware. Und in der Herstellung von Hardware wird in Zukunft wenig Wertschöpfung sein. Wenn beim Digitalisierungswettlauf in der Automobilindustrie Apple oder Google das Rennen gewinnen, kann genau das passieren.

Was heißt digitale Disruption für die Entwicklung von Innovationen in Unternehmen?

Kurt Matzler: Ein wichtiger Punkt ist zunächst, in Risiken zu denken, weniger in Chancen. Das bedeutet, sich zu fragen: "Was würde Silicon Valley tun, wollte es meine Branche zerstören?" Denken in Risiken öffnet neue Perspektiven und Denkmöglichkeiten. Und es motiviert dazu, sich aus der Komfortzone zu bewegen. In Chancen zu denken, ist schön und nett, schafft aber zu wenig Mobilisierung.

Der zweite Punkt: Wer bei der Digitalisierung nicht in Geschäftsmodellen denkt, produziert Insellösungen. Aber Insellösungen werden nicht ausreichen.

Müssen Unternehmen die Disruption auf die eigene Unternehmensorganisation anwenden? Denn in alten Strukturen Neues zu entwickeln, ist schwierig.

Kurt Matzler: Disruption innerhalb der überkommenen Strukturen entwickeln zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt. Es gibt mehrere Ansätze, zwei halte ich für ganz wesentlich: erstens Kooperation mit Start-ups. Also Start-ups nicht als Feinde betrachten, sondern als mögliche Partner. Zweitens neue Strukturen entwickeln. Zum Beispiel die Verantwortung für die Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen auslagern, wie es Klöckner getan hat mit Klöckner.i in Berlin. Dort ist man vor Ort in der Szene, und diese kleinen Einheiten können unabhängig vom Mutterunternehmen, losgelöst vom Erbe der Vergangenheit, neue Geschäftsmodelle entwickeln.

Das war Teil 2 des Gesprächs mit Kurt Matzler über Disruption. Lesen Sie in Teil 1 des Interviews mehr über Digitalisierung.


changeX ist die Online-Plattform für Zukunftsideen, neue Wirtschaft und Innovation. changeX behandelt Themen, die morgen wichtig werden. In Essays, Interviews, Buchrezensionen und Reports suchen wir nach Ideen mit Zukunft. Im Mittelpunkt: Innovation, Führung, Management, Wirtschaft, Bildung, Denken, Zukunft und andere Themen des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft. Motto: „In die Zukunft denken“. Ziel: Angesichts der Turbulenzen der Zeit den Überblick zu wahren.

changeX erscheint im Abonnement online unter http//www.changex.de und ist in den sozialen Netzwerken Twitter, Facebook, Google+ und XING vertreten. Abonnenten können alle Beiträge auf dem Portal lesen und im Archiv mit mehr als 4.000 Artikeln recherchieren. changeX bietet Abo-Angebote für unterschiedliche Nutzerinteressen vom Lesen bis hin zum Weitergeben von Beiträgen unter Creative-Commons-Lizenz. http://www.changex.de/Page/AboOverview


Das könnte Sie auch interessieren:

Autor: Winfried Kretschmer (Gastautor)

Veröffentlicht am: 27.04.2017


Verfasse einen Kommentar

×

×